Der Antiheld

ERZÄHLER Sein letzter Roman wurde mit den „Buddenbrooks“ verglichen. Sein nächster wird sehnsüchtig erwartet. Gerade hat er eine Schreibkrise in Berlin. Eine Begegnung mit Jonathan Franzen

Walter und Patti heißen die Helden seines nächsten Romans. Sie schlagen sich mit großen Fragen herum

VON JUDITH LUIG

Klar ist ja sowieso: Er ist ein Meister des abgrundtief Menschlichen. Die Darstellung seiner Figuren: erbarmungslos, entlarvend, doch nie ohne Liebe. Die Helden seiner Romane: lächerlich, verbissen, aber niemals abnormal oder monströs. Und immer wieder erkennt man sich selbst in diesen Alltagskämpfern wieder – vor allem dann, wenn man es am wenigsten möchte.

Schon weniger klar ist: Wer ist dieser Schriftsteller des Allzumenschlichen? Jemand, der über den Dingen steht und auf uns herablächelt? Oder doch einer, der die Untiefen seiner Figuren selbst erlebt hat? Wer also ist Jonathan Franzen? Und was macht der Autor der „Korrekturen“ eigentlich gerade so?

Gerade ist er für einige Wochen in Berlin – und der halbe deutsche Literaturbetrieb kommt neugierig mal gucken. Bei einer Lesung wurde er angekündigt wie ein Rockstar. Es ist schwer, jemanden zu finden, der noch nicht von den „Korrekturen“ gehört hätte. Die meisten haben es sogar gelesen. Und keine Frage: Bei seinen Auftritten genießt er die Zuneigung der Zuhörer. Er ist sehr präsent, charmant außerdem. „Ich fühlte mich miserabel“, gesteht er mit gewinnendem Lächeln, „und jetzt ist alles wunderbar.“ Fühlt sich Jonathan Franzen wie ein Rockstar? Eine gute Einstiegsfrage, um zu Beginn des Gesprächs das Eis zu brechen.

In der American Academy, dieser Großbürgertumsvilla am Berliner Wannsee, wo Franzen zum wiederholten Male wohnt. Er ist über die Frage amüsiert. Er fummelt an seiner Brille herum, dann lacht er. „Ich glaube, ein Rockstar fühlt sich besser als ein Schriftsteller.“ Schon da ist deutlich: Das Abgebrühte ist seine Welt nicht. Interessant, wie er begründet, trotz schlechteren Gefühls lieber Schriftsteller zu sein. „Man arbeitet als Autor an einer großen menschlichen Komplexität. Es müsste viel passieren, bevor ich das aufgebe.“

Allerdings ist er keiner dieser Autoren, die schweigend ihr Buch in die Welt hinausschicken und dann still ausharren. Nach dem großen Erfolg der „Korrekturen“ (auf Deutsch 2002 erschienen) war er ein bisschen enttäuscht, dass ausgerechnet in Deutschland sein nächstes Buch „Die Unruhezone“ (2007) eher als eine Fingerübung betrachtet wurde. Er sagt das nicht ohne leisen Vorwurf. „Ein nicht unintellektuelles Buch, wenn ich das mal sagen darf“ – in dem er ein ganzes Kapitel seiner tiefen Beziehung zu Deutschland widmet. Überhaupt, „meine ersten beiden Bücher waren kleine Liebesbriefe an die deutsche Literatur, und die wurden in alle möglichen Sprachen übersetzt, aber ausgerechnet nicht ins Deutsche“. Das passierte erst nach den „Korrekturen“. Aber so liefe das eben: „Solange man nicht einen großen Klotz von Roman in den Läden liegen hat, kriegt man erst mal weniger Beachtung.“

An genau so einem Klotz arbeitet Jonathan Franzen gerade. Vielmehr, er leidet dran. „Höllisch.“ Er sagt das etwas leiser und so direkt, dass man sich kaum traut nachzufragen. Macht man aber natürlich doch. Seit über einem Monat hat Franzen eine Schreibkrise, sein intellektueller Charme des selbstbewussten Understatements leidet darunter keineswegs, aber eine Anspannung merkt man ihm an. Beim Interview in der ehrenvollen Bibliothek der Academy besteht er auch darauf, dass wir am Tisch sitzen. „Im Sessel schlafe ich sofort ein.“

Oh, auch da mal nachhaken! Heraus kommt: Jonathan Franzen steht morgens um sechs auf, er kann einfach nicht länger schlafen. Und: „Ich liebe die frühen Stunden des Tages, da ist man schön allein.“ Wer früh aufsteht, ist auch früh mit der Arbeit fertig. Danach geht er ins Fitnessstudio, spielt Tennis, kauft ein und kocht abends für Cathy oder sie für ihn. Er trifft auch Freunde, aber nie lange. „Man muss ein wirklich guter Freund sein, damit ich mehr als zwei Stunden mit ihm verbringe.“

Tagesablauf also. Gut. Gelegenheit für eine Lieblingsfrage: Hat er eine strenge Schreibroutine, so wie Thomas Mann? „Ja“, er lacht. „Nur dass Thomas Mann produktiver war, was die Seitenzahlen angeht.“ Generell soll so wenig Tag zwischen den Schlaf und die Arbeit kommen wie möglich. „Die Vögel haben mir den Morgen nahegebracht“, erklärt er, „die mögen Menschenmassen genauso wenig wie ich.“

Irgendwann musste das Gespräch auf Vögel kommen. Franzen ist bekannt für seine Leidenschaft, sie zu beobachten. Er redet gerne drüber. Aber was fragt man da? Vielleicht: Hat diese Passion was mit Männlichkeit zu tun? „Nicht ausschließlich“, sagt er, „aber die, die wirklich daran erkrankt sind und für die es keine Rettung mehr gibt, sind Männer.“ Na ja, immerhin ein guter Übergang.

Männer und Frauen, der Geschlechterkampf, das ist natürlich eines der großen Themen seiner Romane. Selten hat jemand so schön erbittert um ihre traditionelle Mutterrolle gekämpft wie Enid Lambert in den „Korrekturen“. Auf diese Bemerkung schweigt Franzen lange. Sehr lange. Dann bringt er leise hervor: „Das scheint nicht richtig.“ Er ist in den Siebzigern sozialisiert worden, ein Produkt der ersten großen Welle von Feministinnen. „Ich erschaffe Figuren, die sich in ihrer Geschlechterrolle unwohl fühlen.“ Ein bisschen so wie er selbst, fügt er hinzu. Und man denkt sich dabei: Anders als seine Figuren versucht er jedoch nicht, solche Krisen zu verdrängen. Er lebt sie aus, spricht offen über sie, in Interviews, in seinen sehr persönlichen Essays und bei öffentlichen Auftritten. Die gescheiterte Ehe, die schwierige Beziehung zu den Eltern, die Schreibblockade – es ist wohl doch das Nachempfinden solcher eigenen Erlebnisse, die seinen Figuren so viel Kraft verleihen.

Über seinen Helden Chip Lambert heißt es einmal, dass er einen Film machen wollte, um die Menschen um ihn herum bloßzustellen. Steckt darin auch ein satirisches Porträt von ihm selbst als Autor? Da kommt wieder dieses Lächeln. „In meinem nächsten Buch gibt es einen Typen, der ist einem Kritiker nachempfunden, der einen sehr langen, dummen und gemeinen Verriss über die ‚27ste Stadt‘ geschrieben hat, ohne dass er über die Seite 32 hinaus gelesen hätte.“ Seit den „Korrekturen“ liest Franzen aber ohnehin keine Kritiken mehr. „Diese Sätze bleiben bei einem, man wird sie nicht mehr los.“ Kritiken lenken nur vom Schreiben ab.

Bush hat ihn übrigens auch vom Schreiben abgehalten. Jetzt, mit Obama, ist alles anders. „Ich muss mir nicht ständig Sorgen machen, wohin das Land steuert“, sagt er. Allerdings begann er sein Buch genau in der Zeit, als der Ärger über Bushs Politik sein Schreiben bestimmte. Viele der Fragen, die er hatte, scheinen jetzt nicht mehr wichtig. Das Manuskript wird sich der veränderten Weltlage anpassen müssen. Das aber ist erst mal schwierig.

Da ist das Interview zu Ende, und beim Aufstehen vom Tisch fasst man innerlich zusammen: Er ist einer der ganz Großen der Literatur. Sein letzter Roman wurde mit den „Buddenbrooks“ verglichen. Sein nächster wird sehnsüchtig erwartet. Über all dem Erfolg ist Jonathan Franzen nicht abgedreht. Auch das muss man erst einmal hinkriegen.

Am nächsten Tag ist Event für geladenes Publikum. Fast anderthalb Stunden liest er auf Englisch. Dann ist er beschwingt, wie gut seine Geschichte über eine Nachbarschaft in St. Pauls, Minnesota, angekommen ist. Die Helden seines noch im Entstehen begriffenen neuen Buchs heißen Walter und Patti, sie schlagen sich erst mal mit den großen Fragen der Siebziger und Achtziger herum: Ist Hirse wirklich nötig? Macht euer Volvo das auch in der Kurve? Was ist dran an Stoffwindeln? Sie werden älter, bekommen Kinder, die fragen, ob Familie eine Demokratie oder eine Diktatur ist. Schließlich ziehen sie nach Washington D. C. Da, so scheint es, beginnt das Buch so richtig, aber da hört Franzen auch auf zu lesen.

Es ist das erste Mal, dass er aus dem Manuskript vorliest. Er ist wieder ein großartiger Performer, vor allem deswegen, weil er vollständig bei sich ist. Er zieht keine Show ab, und doch setzt er alle Pointen ganz bewusst. Einmal verpasst das Publikum einen großartigen Satz – es gibt kaum Reaktionen. Franzen liest ihn einfach noch mal vor – betonter. Er hat es eben nicht gern, wenn er nicht verstanden wird.

Nein, er schwebt nicht über den Dingen. Ganz klar ist nach diesen zwei Tagen mit Jonathan Franzen: Gerade deswegen, weil er so viel Eigenliebe und gleichzeitig so viel Selbstverachtung in seine Figuren legt, ist er ein so wunderbarer Erzähler des Menschlichen.