Neuer Klang aus alten Knochen

CYBER-FOLKLORE II Neben dem Gotan Project wendet sich Christoph H. Müller dem schwarzen Peru zu

Es sind nicht die Zähne einer Giftschlange, die einem vom Cover des Albums von Radiokijada entgegenblitzen, auch wenn das die erste Assoziation sein könnte. Nein, die Erklärung ist noch ein bisschen morbider: In der afroperuanischen Musik war die Quijada – ein Eselskiefer, von Hautfetzen abgelaugt und getrocknet – seit je ein beliebtes Perkussionsinstrument.

„Es geht einem kalt den Rücken runter, wenn man diesen schnarrenden Laut der Zähne hört“, bekennt der Musiker und Produzent Christoph H. Müller. „Ich liebe diese Dualität: Man hat da etwas Totes in der Hand. Andererseits erzeugt man damit Rhythmen, und Rhythmus bedeutet ja Leben!“

Der Mann, der seine Wurzeln ursprünglich in Basel und Dortmund hat, treibt seine Elektroniktüftelei, die dem Tango des Gotan Project die besondere Raffinesse verlieh, nun mit Elementen von der pazifischen Seite Südamerikas weiter. Die Vorliebe für diese Tradition datiert allerdings schon aus der Zeit vor den Gotans. Seit nahezu 20 Jahren pflegt Müller die Freundschaft zu dem Peruaner Rodolfo Moñoz aus Lima, einem Perkussionisten, der über eine profunde Kenntnis afroperuanischer und kubanischer Musik verfügt.

„Im Grunde hat alles im Pariser Club New Morning begonnen, als die Grande Dame der afroperuanischen Musik, Susana Baca, dort gastierte. Wir haben es geschafft, ein paar ihrer Musiker ins Studio zu schleppen und mit ihnen die Basis für den Track ‚Tumba y Cajón‘ zu legen“, erinnert sich Müller. Danach ging es zirka fünfmal hin und her zwischen Pazifik und Paris: Moñoz versammelte viele schwarze Künstler vorm Mikro, allen voran die des Ballumbrosio-Clans, um das Album „Nuevos Sonidos Afro Peruanos“ zu produzieren.

Die Musik der Schwarzen Perus, so Müller, hat vor allem dadurch überlebt, dass sie von einzelnen Familien weitergegeben wurde. Erst jetzt trete sie langsam aus diesen Strukturen heraus und öffne sich der Welt. Und sieht sich zurzeit des Öfteren mit Electronica konfrontiert: Radiokijada ist nur eine der Gruppen, die sie kompatibel mit dem Dancefloor machen, ein kleiner Weltmusiktrend steht da in den Startlöchern. „Die Komplexität der Rhythmen ist einfach fantastisch, und bei der Beschäftigung damit merkte ich, dass da auch eine gewisse Verwandtschaft mit den nichtbinären Mustern Argentiniens herrscht, mit denen ich beim Gotan Project zu tun hatte. Da ist wohl einiges über die Anden geschwappt.“

Wie man diese Patterns zeitgemäß weiterbearbeiten kann, diese Frage habe ihn nicht mehr losgelassen, so Müller. Das Ausgangsmaterial sei ja sehr rau und spröde: Die Perkussionsinstrumente haben keine Felle, bestehen lediglich aus Holz und Knochen. Dazu kommt die Tradition der decima, der gesprochenen Poesie, die für unsere Ohren durch die vermeintliche Nähe zum Rap schon etwas urban klingt. Moñoz bereichert die Arrangements dann noch durch eine rituelle Note, die er aus der kubanischen Santería-Religion transferierte. Vielleicht trage Radiokijada ja dazu bei, unter das panflötenverschuldete „Marketingproblem“ der peruanischen Musik in Europa einen Schlussstrich zu ziehen, meint Müller verschmitzt. Zu gönnen wäre es dem Land ja mal. STEFAN FRANZEN

■ Radiokijada: „Nuevos Sonidos Afro Peruanos“ (Wrasse/H. Mundi)