Selbsterniedrigung und Größenwahn

Wenn Wünsche in schönster Uneindeutigkeit oszillieren: Frank Castorf hat sich für sein neues Stück „Meine Schneekönigin“ mit Hans Christian Andersen auf die Couch der Berliner Volksbühne gelegt, spiegelt sich intensiv in dessen Widersprüchen und liest die Märchen als Symptome seiner Obsessionen

Frank Castorf agiert mit einem gewissen Triumphgefühl des AufklärersDas Schema der Entzauberung wird bald zu vertraut, um noch zu überraschen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Der Wunscherfüllung folgt die Strafe auf dem Fuße. Hinter dem Ende jeder Episode und jedes der vielen Märchen, die Frank Castorf in „Meine Schneekönigin“ nach den Motiven von Hans Christian Andersen auf die Bühne bringt, beginnt die Geschichte wieder von vorn: Da stehen die Figuren wieder auf und büßen, was sie eben noch als Happy End erlebten. Liebe ist grausam, und wo sie nicht grausam ist, folgt dem ersten Bild garantiert ein zweites, das die, die eben noch Figuren des Guten waren, in Figuren des Bösen verwandelt hat.

Wer nach dem Ende der Schneekönigin schon glaubt, der Theaterabend sei gleich vorbei, irrt sich: Das war erst die halbe Strecke. Die Schneekönigin schüttelt ihre blonden Locken und ermahnt sich, vorsichtig zu sein mit ihren Küssen, die so leicht töten, was sie liebt. Jeanette Spassova spielt diese Königin der Kälte mit großer Befriedigung – jede weitere Regung als unnötige Ausgabe kalkulierend. Eine Lebkuchenfrau träumt davon, ihr Lebkuchenmann wäre ein kleiner Junge, der sie kaufen und auffressen will vor Liebe. Herbert Fritsch und Alexander Scheer liegen zusammen im Bett, während sie sich dieses Märchen erzählen und dabei krachend und spuckend große Stücke aus Lebkuchenfrauen beißen.

Kurz zuvor noch war Fritsch der Mann, dem ein mit belehrenden Worten nicht sparender Volker Spengler den nackten Hintern mit einem dampfenden Bügeleisen geplättet hat, als Kasteiung dafür, dass er die Schneekönigin mit so unverhohlenem Interesse betrachtet hat. Kurzum, die Wünsche oszillieren in schönster Uneindeutigkeit, und was man sieht, ist nicht immer dasselbe wie das, was man hört: So wechselt nicht nur mitten im Begehren das begehrte Objekt manchmal sein Geschlecht, sondern auch die Sehnsucht nach Verschmelzung ist selten von einer nach Schmerz zu trennen. Es ist ein masochistisches Universum, das uns vorzuführen die einsatzbereiten Schauspieler mit vielen Treppenstürzen und blauen Flecken bezahlen.

Es gibt von Hans Christian Andersen einen Scherenschnitt: Da wächst aus einem aufrecht stehenden Herzen ein Galgen, an dem rechts und links in schöner Symmetrie ein kleiner Erhängter baumelt. Das scheint eines der Leitmotive in Frank Castorfs Andersen-Lektüre. Die Beine eines Erhängten baumeln mal aus der Tür jenes kleinen Kabinetts, das als ständiger Ort der Verwandlung gebraucht wird, mal hinter den Latten, die von der ursprünglichen Wandtäfelung noch übrig geblieben sind. Denn sehr flugs und mit Genuss geht das Bühnenbild zu Bruch, werden Wände eingeschlagen, fallen Platten aus der Decke, bis der Schnee durchrieselt, und das Sofa ist sowieso mit einem Loch versehen, das Figuren verschluckt wie eine gigantische Kastrationsmaschine.

Fassaden einreißen, ins Verborgene schauen, das Verdrängte hervorkramen: Es ist diese Bewegung, auf der Frank Castorf seine Interpretation der Märchen und Tagebücher von Hans Christian Andersen aufbaut. Er spürt in all diesen unglücklich Liebenden die Ängste vor der Sexualität als Effekt einer Moral auf, die das Recht auf Lust als eine Frage der Klassenzugehörigkeit behandelte. Die Hypochondrie des Dichters und sein ständiges Leiden an mangelnder sozialer Anerkennung, die aus seinen Tagebüchern sprechen, schiebt die Inszenierung scheibchenweise zwischen den O-Ton seiner Märchen: Denn klagt da nicht der Stiefelknecht den Kragen des Hochmuts, Dünkels und Vorgaukelns falscher Rollen an, singt da nicht die Teekanne im fortgesetzten Ton beleidigter Selbstgerechtigkeit?

Verkannt zu sein, ist schließlich das Problem all der sprechenden Dinge in Hans Christian Andersens Märchenhaushalten. Die wechselnden Posen zwischen Selbsterniedrigung und Größenwahn scheinen dort nicht weniger zu Hause als in einer in die bloße Imagination verbannten Sexualität.

Frank Castorf agiert mit einem gewissen Triumphgefühl des Aufklärers, der die Psychoanalyse und die Geschichte von der Ökonomisierung der Lüste auf seiner Seite weiß. Er bewegt sich sicher durch die Nachtseite der Romantik, in der es von abgeschlagenen Schädeln, Köpfen ohne Augen und von Schatten wimmelt, die ihren Schattenwerfern die Gefolgschaft verweigern – allesamt Chiffren, die seit dem Beginn der Moderne von der Spaltung des Ichs und dem Verlust der Einheit erzählen. Dennoch fehlt der Inszenierung etwas, was man von Frank Castorf und der Volksbühne erwartet, eine Transparenz des Stoffes, durch die der Verteilungskampf um Anerkennung, Status und Macht auch in der Gegenwart scheinen würde.

So sieht es aus, als ob den Regisseur die Figur des Dichters zu sehr verführt hätte, sich in dessen Widersprüchen zu spiegeln. Die Inszenierung ist zu selbstgewiss, die Wahrheit über eine Figur zu wissen, die auch nach zweihundert Jahren noch mit den Klischees vom Märchenonkel behängt ist wie ein Weihnachtsbaum mit Weihnachtskugeln. Doch diese Interpretation von Andersens Figuren als Symptomen seiner Neurosen ist auch eine biografische Engführung des Stoffes, und das Schema der Entzauberung wird irgendwann zu vertraut, um noch zu überraschen.