Die Versicherung der Verunsicherten

Banken reiben sich derzeit die Hände über die „enorme“ Zahl von Kunden, die zum Jahresende „schnell noch“ eine steuerfreie Versicherung abschließen wollen – weil die Zeit läuft und keiner weiß, was nach dem Stichtag kommt. Sinnvoll ist es selten

VON JOCHEN SETZER

Auslaufmodelle gelten gemeinhin nicht gerade als Verkaufsschlager. Wer will schon im Herbst mit dem letzten Modeschrei des längst verblassten Sommers durch die Straßen laufen? Und in der Unterhaltungsindustrie wird ein Kassettenwalkman heutzutage nur noch wenige Käufer finden, selbst wenn er zum Dumpingpreis angeboten wird. Ganz anders sieht das in der Finanzbranche aus: Hier lassen sich olle Kamellen – wie Lebensversicherungen oder Bausparverträge – am besten verkaufen, wenn Neuerungen anstehen oder geplant sind. Ein Dauerbrenner als Verkaufsargument für Wohnbaufinanzierungen sind deshalb regelmäßig die Pläne der Bundesregierung, die Eigenheimzulage einzustampfen. Nach dem Bundestagsbeschluss bleibt den Finanzvermittlern bis zur ausbleibenden Zustimmung durch den Bundesrat genug Zeit, um ordentlich die Werbetrommel zu rühren: „Abschaffung der Eigenheimzulage geplant: Bauen Sie jetzt, und verschenken Sie kein Geld“, lautet der Tenor der Werbebotschaften. Und wenn dann, keiner hätte es gedacht, der Bundesrat plötzlich ablehnt, kann man schließlich auch nichts dafür.

„Jetzt schnell handeln!“

Aktuell laufen in etlichen Banken und Versicherungsverkaufsräumen und auf deren Homepages die Uhren rückwärts: Sie zählen den Countdown zum Jahreswechsel. Diesmal steht, unter dem Stichwort Alterseinkünftegesetz, eine Neuerung bei der Besteuerung von Kapital bildenden Versicherungen an, die man doch unbedingt mit einem Vertragsabschluss bis zum 31. 12. 2004 umgehen müsse. Mit Slogans wie „Vorsorge ja! Steuern nein! Jetzt schnell handeln!“ buhlen die Banken und Versicherer im Jahresschlussspurt um unsere Unterschrift.

Und die Kampagnen wirken, wie Michael Gaedicke, Pressereferent beim Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, bestätigt: „Nach Monaten der Verunsicherung ist das Abschlussverhalten in den letzten Wochen enorm gestiegen.“

Kurios daran findet der Verbraucherschützer Wolfgang Scholl, „dass der Abschluss von Lebensversicherungen auch nach der alten Gesetzeslage nur in den seltensten Fällen sinnvoll ist“. Die gewerbliche Ausschlachtung der Gesetzesänderung bewertet er daher als „bloße Panikmache“.

Apokalyptischer Countdown

Doch warum färbt sich ein graues Produkt plötzlich in die schönsten Farben, wenn vom Gesetzgeber daran herumgedoktert wird? Und warum lassen wir uns von apokalyptischen Countdownzählern unter Druck setzen? Ein Exkurs in die Welt der Werbepsychologen verspricht Klarheit.

Fakt ist, dass so genannte Kapital bindende Versicherungen nur noch bei Abschluss vor dem Jahreswechsel steuerfrei sind. Konnte man sich bisher für oder gegen eine solche Versicherung entscheiden, so wird dies im neuen Jahr nicht mehr möglich sein. Denn dann gibt es sie – zumindest in der heutigen Form – nicht mehr.

„Wenn eine Option wegfällt oder wegzufallen droht, empfinden Konsumenten das als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit und werten die bedrohte Alternative auf“, sagt Katharina Fitzpatrick von der Universität Oldenburg, die auch Werbepsychologie unterrichtet. „Nur wer jetzt noch unterschreibt, kann die anstehende Einschränkung umgehen.“ Deshalb erscheinen die staubigen Produkte momentan vielen wie der letzte Sahnepudding im Supermarktregal.

Der Effekt wird dadurch verstärkt, dass die Entscheidung, das Produkt nicht mehr anzubieten, vom Gesetzgeber getroffen wurde – nicht vom Anbieter selbst. „Deshalb genießt die Werbebotschaft eine nahezu unanfechtbare Glaubwürdigkeit. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Produkt an sich erscheint nicht mehr erforderlich“, so die Psychologin zur taz.

Durch das einfache und einzige Argument „Steuern sparen“ wird der Konsument zudem in eine prekäre Lage gebracht. „Natürlich möchte jeder gerne Steuern sparen.“ Und wer jetzt nicht handle, müsse sich später negative Konsequenzen, nämlich Geld verschenkt zu haben, selbst zuschreiben. „Dieser Gedankengang erzeugt Unbehagen, dem man durch den Abschluss entfliehen kann“, sagt Fitzpatrick. Dass uns dabei ständig vor Augen geführt wird, dass wir nur noch wenig Zeit haben, verleiht der Situation eine zusätzliche Brisanz.

Die Erfahrungen der Verbraucherzentralen stützen die Einschätzung der Psychologin. „Unabhängig von der Abwägung von Argumenten für oder gegen einen Abschluss bestimmt der Glaube, dem Gesetzgeber ein Schnippchen zu schlagen, die Entscheidung“, sagt der Versicherungsexperte Erk Schaarschmidt von der Verbraucherzentrale Brandenburg.

Überforderung als Trick

Von der Flut an erklärungsbedürftigen Gesetzesänderungen bei mindestens ebenso erklärungsbedürftigen Finanzangelegenheiten fühlten sich viele Verbraucher zudem „überfordert“. Kein Wunder, dass Otto Normalverbraucher die Qualität der ihm angebotenen Versicherungsprodukte nicht beurteilen kann. Da nicht jeder einen vertrauenswürdigen Banker oder Versicherungsfachmann im Bekanntenkreis hat, führt der Weg der Orientierung Suchenden häufig direkt zum Verkaufsschalter – anstatt einen unabhängigen Berater zu konsultieren. Denn objektive Beratung ist hier nicht zu erwarten. Schließlich diskutiert die Bäckersfrau morgens auch nicht mit uns über die Frage, ob wir überhaupt Hunger haben, bevor sie uns ihre Brötchen verkauft. Doch ein Fehlkauf beim Bäcker ist schneller vergessen als die Unterschrift unter einen überflüssigen Versicherungsvertrag.

Verlust für die Verbraucher

Wenn der Schnellschuss nach ein paar Jahren storniert wird, dann sei die Lebensversicherung „sehr oft ein Verlustgeschäft“, weiß Verbraucherschützer Wolfgang Scholl vom Bundesverband der Verbraucherzentralen zu berichten. „Insbesondere ältere und bildungsschwache Verbraucher sind die Hauptopfer.“

Ein Abschluss kurz vor Jahresschluss sei nur für Selbstständige und Arbeitnehmer, die noch eine so genannte pauschal besteuerte Direktversicherung nach Paragraf 40 EStG abschließen können, sinnvoll, so die Empfehlung des Versicherungsexperten.

So liefert die Politik mit ihren Änderungen den Banken und Versicherungen nicht nur Verkaufsargumente auf einem silbernen Tablett, sondern stiftet unter Verbrauchern auch jede Menge Verwirrung. Dabei sollten wir doch den Trick mit der ablaufenden Zeit längst durchschaut haben, schließlich setzen Bausparkassen stets auf die „Schnell, schnell, sonst ist bald endgültig alles vorbei“-Methode – und trotzdem war dann irgendwie jedes Jahr aufs Neue am 31. 12. wieder „Wüstenrot-Tag“.