Geradezu weihnachtliche Freude

Er kam an Heiligabend zur Welt – und Geschenke spielten in Leben und Werk Joseph Cornells eine zentrale Rolle, auch wenn er sie gelegentlich zurückforderte. Heute würde er 101

VON DIRK SCHAEFER

Wer am 24. Dezember geboren ist, hat es nicht leicht. Einerseits wird man um das eigene Fest betrogen, andererseits ist man quasi auserwählt, denn die ganze Welt feiert mit. Das Mindeste, was man Menschen, die ihren Geburtstag an Heiligabend feiern, unterstellen kann, ist ein spezielles Verhältnis zum Schenken und Beschenktwerden. Die Kunst von Joseph Cornell, geboren am 24. Dezember 1903 in Nyack bei New York, lehnt sich an typische Erscheinungsformen und Verpackungen von Geschenken an. „Vergessene Spiele“ nannte Cornell seine Arrangements gefundener Objekte; nicht umsonst pflegte er seine Ausstellungen in die Weihnachtszeit zu legen, denn seine Arbeiten rufen vergessene magische Kindheitsmomente unter dem Tannenbaum wach. Flaschenpost und Schneekugel, Schmuckkästchen und Setzkasten gewinnen in Cornells Arrangements ihr Geheimnis zurück.

Vor allem war dieser Eigenbrötler, der nie eine Kunstakademie besucht hatte und erst spät von seiner Kunst leben konnte, ein manischer Sammler. Nach dem frühen Tod des Vaters musste Joseph, keine zwanzig Jahre alt und ohne abgeschlossene Ausbildung, die ursprünglich wohlhabende, nun verarmte Familie durchbringen. Seinen schwerbehinderten Bruder Robert betreute er bis zu dessen Tod in den Sechzigerjahren. Cornell verdiente sein Geld zunächst zehn Jahre lang zu Fuß, als Vertreter für ein Bekleidungsunternehmen in Manhattan, eine lange S-Bahn-Fahrt entfernt von Flushing, Bezirk Queens, wo die Cornells ein kleines Haus gemietet hatten.

Eingesperrt in einen Käfig familiärer Pflichten, überließ sich Cornell auf seinen Gängen durch die Stadt des Öfteren kleinen Fluchten, die ihn in Kunstgalerien und Trödelläden führten – in die Welt des im engeren Sinne Nutzlosen. Denn Cornell stöberte nicht nach Praktischem, er begann inmitten des Krempels zu träumen. Für ihn erwiesen sich die Trödelläden und Antiquariate als Museen und Archive der untergegangenen Welt seiner Kindheit.

Ohne es zu wissen, wandelte Cornell mit seinem Interesse für das jüngst Veraltete bereits auf surrealistischen Pfaden, hatte doch André Breton den Flohmarkt zum interessantesten Ort von ganz Paris erklärt. Erst die Begegnung mit Max Ernsts Buch-Collage „La femme 100 têtes“ von 1929 aber scheint Cornell schlagartig zur Nachahmung angeregt zu haben. Von seinen Spaziergängen her kannte er die Galerie Julien Levys, die bald zum wichtigsten Umschlagsort der französischen Surrealisten in den USA werden sollte. Irgendwie gelang es Cornell, seine pathologische Schüchternheit zu überwinden und dem Galeristen einige seiner Collagen zur Ansicht dazulassen. Dann ging alles sehr schnell. Anfang 1932, wenige Monate nachdem er mit der Herstellung eigener Collagen begonnen hatte, fand Cornell sich dank Levy als einer von wenigen amerikanischen Künstlern in der ersten Surrealismus-Ausstellung auf amerikanischem Boden wieder, neben Ernst, Dalí und Picasso.

Erstaunlich ist nicht nur die Rasanz dieses Aufstiegs vom Vertreter zum Avantgardekünstler. Es ist fraglich, ob Cornell vor 1931 je daran dachte, künstlerisch zu arbeiten. Der einzige Künstler, den er als Kind bewundert hatte, war Houdini, jener berühmte Entfesselungskünstler, der sich, in eine Kiste eingesperrt, ins Wasser werfen ließ und es auf unbegreifliche Weise schaffte, der tödlichen Falle zu entrinnen. Ferner liebte Cornell die Malerei im Allgemeinen und die französische Literatur des 19. Jahrhunderts im Besonderen, ohne jedoch den Ehrgeiz zu besitzen, selbst zu malen oder zu dichten; Bilder und Texte anderer haben ihm später aber oft als Ausgangsmaterial gedient. Vermutlich kam die Collage-Technik einfach seinen Fähigkeiten entgegen, die weniger die eines gottähnlichen Künstlergenies waren als die eines Sammlers und Bastlers.

Das Max-Ernst-Erlebnis, das ihn seine Berufung entdecken ließ, war vielleicht der erste jener glücklichen Funde, die nun Cornells eigentlicher Lebensinhalt (und nach einigen Jahren auch -unterhalt) wurden. Derlei „Offenbarungen“ waren, was er zeitlebens suchte, wohl wissend, dass dieses Suchen nichts als gekonntes Warten ist, eine Bereitschaft, sich unversehens und unverdient beschenken zu lassen. Ein bestimmtes Licht über der Stadt bescherte ihm manchmal geradezu weihnachtliche Glücksmomente, deren äußerliche Koordinaten sein Tagebuch in kargen Worten festhält.

Nach einigen Jahren des Experimentierens hatte er für seine Arbeit mit gefundenen Objekten die Form gefunden, die sein Markenzeichen werden sollte: die box. In der Regel handelt es sich dabei um einfache, selbst gezimmerte Kästen aus Holz, mit einer gläsernen Frontscheibe versehen, hinter der einige gefundene Objekte versammelt sind. Einmal entdeckt, erwies sich die Form der Box (das englische Wort ist erstaunlich schwer übersetzbar, umfasst es doch Behältnisse vom Etui über den Kasten bis zur Zelle) als eine ebenso elementare wie universale Form, die es Cornell erlaubte, sich seinen wechselnden Interessen als Sammler und Rechercheur auf produktive Weise hinzugeben. Im Gegensatz zum auf Vollständigkeit zielenden Sammlertrieb zeichnen die Cornell’schen Kästen sich allerdings durch eine Reduktion aus, die der Imagination Raum lässt; auch wirkten sie schon zur Zeit ihrer Entstehung auf anrührende Weise alt und brüchig, als habe er sie fertig aus dem Trödel gefischt – ein Eindruck, auf den er mit den Tricks eines Fälschers gezielt hinarbeitete. Am Küchentisch geleimt und mit Farbe angestrichen, wurden die Kästen, damit sie älter aussahen, im Ofen gebacken. Setzkästen nicht unähnlich, verwandeln diese Gebilde sich dank Cornells Gespür für die Alchemie des Alltäglichen in Bühnen überraschender Begegnungen: enigmatische Gedichte aus verloren wirkenden Glaskugeln, Sternbildern, Starfotos.

Cornell war ein Gewohnheitsmensch auf der Suche nach Augenblicken der Erleuchtung. Auch als etablierter Künstler blieb er in Queens, fuhr nach Manhattan und machte regelmäßig seine Tour durch Trödelläden, Antiquariate und die Public Library; wenn er dann beispielsweise mit einer Schallplatte nach Hause kam, ließ er sie unter Umständen monatelang liegen, bis er den richtigen Moment, sie anzuhören, nahen fühlte. Es kam vor, dass eine seiner Arbeiten zwischendurch für mehrere Jahre im Keller verschwand, bevor er sie, von einer plötzlichen Eingebung beseelt, mit einem Mal vollendete.

Häufig löste Cornell das Problem des Abschließens dadurch, dass er das fragliche Objekt an Freunde weggab – eine brachiale Methode, das Kunstwerk vor dem Künstler in Sicherheit zu bringen. Mitunter war nicht einmal dieser Trick radikal genug, und Cornell ging dann so weit, Geschenke zurückzufordern. Überhaupt scheint er seine Präsente im Rückblick gern zu Dauerleihgaben umdefiniert zu haben. Cornell liebte seine Objekte, und zugleich waren sie Boten seiner Liebe zu Menschen, Medien einer idealisierenden „Fernliebe“, die, wie bei Rilke, dem manischen Briefeschreiber, Distanz überbrücken und gleichzeitig bewahren sollten.

Menschen, die er aus der Ferne verehrte – hauptsächlich junge Frauen: Filmstars, Ballerinen, Künstlerinnen – machten ihre erste Bekanntschaft mit seiner Kunst gelegentlich per Post, wenn er ihnen eines seiner Objekte zusandte oder einfach nur einen Fanbrief schrieb, dessen getippte Buchstaben eine Textinsel inmitten collagierter Fantasiegestalten bildeten.

Anfang der Vierzigerjahre veröffentlichte er in der Kunstzeitschrift View eine Hommage an die Hollywood-Schauspielerin Hedy Lamarr, die sich liest wie der offene Brief eines eigensinnigen Fans. Cornell appliziert darin sein Thema – die verlorene Kindheit – auf den Untergang des Stummfilms und meint, der Auftritt Lamarrs auf der Leinwand, insbesondere ihr Blick in Großaufnahme, bringe den hohlen Lärm des Tonfilms für Augenblicke zum Schweigen. In diesem Entwurf zu einer Art Gegenästhetik des Kinos wird die Schauspielerin zur eigentlichen Künstlerin erklärt, gerade weil sie für einige seltene, kostbare Momente den Erzählfluss zum Erliegen bringt.

Zwanzig Jahre später haben Jack Smith und Andy Warhol hier angeknüpft; sie waren mit Cornells Arbeiten ebenso vertraut wie Susan Sontag, deren klassischer Aufsatz „Notes on Camp“ im Jahre 1963 eine Ästhetik bekannt machte, die nicht ganz so neu war, wie es der Kunstöffentlichkeit damals erschien. Ähnliches gilt für die um 1960 populär werdende Gattung des Found Footage Film: Schon 1936 hatte Cornell in Julien Levys Galerie „Rose Hobart“ vorgeführt, seine aus gefundenem Filmmaterial (de)montierte Hommage an die gleichnamige Hollywood-Schauspielerin.

Gefundene Objekte bildeten so etwas wie Cornells Muttersprache. Als er noch ein Kind war, unternahm seine Mutter des Nachmittags regelmäßig Ausflüge in die große Stadt; meist kehrte sie mit kleinen Geschenken zurück, die sie ihm abends ans Bett zu bringen pflegte wie einen Gutenachtkuss. Nichts spricht dagegen, in Cornells Kunstgeschenken das ebenso verschobene wie verschrobene Bemühen um eine Erwiderung jener mütterlichen Gaben zu sehen, die in letzter Instanz auf das nicht erwiderbare Geschenk des Lebens hinausläuft. Seine Biografin Deborah Solomon meint, Mrs. Cornell habe ihren Sohn zeitlebens – sie starb wenige Jahre vor ihm – spüren lassen, dass er bei ihr in der Schuld stand.

Box heißt auch: Zelle. In seiner Arbeit „Toward the Blue Peninsula“ erinnern der verlassene Vogelkäfig und das Fenster, das sich in eine blaue Leere öffnet, an Cornells jugendliche Begeisterung für Houdini. Bei Cornells Kästen geht es wie bei Houdini um Entfesselungskunst, um das Thema der Flucht – und deren Unmöglichkeit. Denn „Toward the Blue Peninsula“ ist eine Hommage an die Lyrikerin Emily Dickinson (1830–1886), die ihren verkorksten Lebens- und Familienverhältnissen (etwa der tragischen Liebe zu ihrer Schwägerin) keine andere Revolte entgegenbrachte als unermüdliches, unveröffentlichtes Dichten. Mitunter scheint sie in ihren Texten Fluchtmöglichkeiten durchzuspielen (die blaue Halbinsel lässt sich als Chiffre lesen für einen Aufbruch, der in ihrem Leben nie erfolgte).

Zeitlebens in familiäre Verpflichtungen eingespannt, die ihn banden, ihm aber wohl auch Halt gaben, sympathisierte Cornell nicht nur mit der Poesie Dickinsons, sondern identifizierte sich mit ihr als Person. Beide starben sie unverheiratet; erfüllte Liebe, welcher Art auch immer, haben beide offenbar nicht erlebt. Und wie Dickinson hätte auch Cornell sagen können: „I dwell in possibility / A fairer house than prose“.

Doch das ist leicht gesagt für ein lyrisches Ich. Ist dieses Haus der Möglichkeit für Sterbliche bewohnbar? Persönlich scheint Cornell dergleichen nie auch nur versucht zu haben. Im größten Gegensatz zu avantgardistischen Forderungen, die Trennung von Kunst und Leben aufzuheben, musste der Alltag für Cornell, so scheint es, vor der Kunst geschützt bleiben. Cornell brauchte seinen Trott, und am Ende des Tages ist er aus der Boheme stets zurückgekehrt nach Queens, wo er von 1929 bis zu seinem Tod im Jahr 1971 lebte – in jenes schlichte Einfamilienhaus, das seinen eigenen prosaischen Kommentar zum lyrischen Überschwang der Adresse abzugeben scheint: 3708 Utopia Parkway.

Im Prestel Verlag, München, sind in englischer Sprache erschienen: „Joseph Cornell“, 296 Seiten, 29,95 Euro, sowie das Kinderbuch „Joseph Cornell. Secrets in a Box“, 29 Seiten, 14,95 EuroDIRK SCHAEFER, 43, lebt als Filmmusiker und freier Autor in Berlin.