Suche nach dem idealen System

Der deutsche Sozialstaat und die soziale Krankenversicherung sind viel besser als ihr Ruf. Wer sie zerschlägt, schadet letztlich BürgerInnen, Unternehmen und dem Staat

Die USA wenden für Strafvollzug und die Gesundheitsversorgung der Armen enorme Summen auf

Die unsägliche Debatte über die Gesundheitsreform hat vor allem eins gezeigt: Sachverständnis und Rationalität spielen in der Debatte über den Umbau der Sozialsysteme in Deutschland keine nennenswerte Rolle. Parteiräson und unbedingte Loyalität sind wichtiger. CSU-Chef Edmund Stoiber schwor seine Partei nicht nur auf patriotische, sondern auch auf „christliche Werte“ ein. Das hindert ihn und die Seinen keineswegs daran, die katholische Soziallehre auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen. Die „christlichen“ Parteien durchleben einen Paradigmenwechsel – McKinsey statt Nell-Bräuning. Die zwischen CDU und CSU ausgekungelte Einheitspauschale zur Krankenversicherung soll die 120-jährige Geschichte der sozialen Krankenversicherung in Deutschland beenden.

Wäre angesichts des neoliberalen Frontalangriffs auf das deutsche Sozialsystem ein Wechsel zu einem steuerfinanzierten Gesundheitswesen die beste Lösung? Auf jeden Fall ist er eine bedenkenswerte Alternative, die ja in Großbritannien und Dänemark erfolgreich angewendet wird. Doch Vorsicht: Egal ob Staat oder Markt die Führung übernehmen sollen – radikale Systemwechsel sind allenfalls im Zusammenhang mit tiefen Umbrüchen möglich. So wurde das steuerfinanzierte britische Gesundheitswesen nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt oder die marktorientierte Reform im Chile von Diktator Augusto Pinochet. Grundsätzlich spiegeln Sozialsysteme sehr getreu die Wertvorstellungen und Empfindungen einer Gesellschaft wider. Der Übergang zu einem anderen Gesundheitssystem führt zu erheblichen Verwerfungen und kostet viel.

Grundsätzlich gilt: Das ideale Gesundheitswesen gibt es nicht. Das belegen die zahllosen Reformbestrebungen weltweit. Solange sich keine restlos überzeugende Alternative bietet, ist es unverantwortlich und fahrlässig, das alte System abzuschaffen, wie heute allenthalben gefordert. Nicht nur der Sozialstaat ist besser als sein Ruf, auch die soziale Krankenversicherung. Die einseitige Wahrnehmung als Belastung des Wirtschaftsstandorts verkennt historische Prozesse ebenso wie ökonomische Zusammenhänge. Sozialversicherungen sind keine karitativen Vereine, ihre Leistungen beruhen nicht auf dem guten Willen der besseren Gesellschaft. Der Schritt von freiwilliger Fürsorge hin zu sozialen Sicherungssystemen mit verbrieftem Anspruch auf Hilfe bei Bedarf gehört zu den kulturell-zivilisatorisch bedeutsamsten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte.

Seit ihrem Bestehen federn sie zudem die unausweichlichen gesellschaftlichen Kosten der privatwirtschaftlichen Logik ab, vermeiden oder überwinden die Armut und sichern allen BürgerInnen einen angemessenen Lebensstandard. Werden stattdessen soziale Sicherungssysteme beschnitten, ist die Folge fatal: Die allgemeine Verunsicherung bremst die ohnehin mangelnde Konsumbereitschaft der Bevölkerung weiter.

Weltweit haben sich funktionierende Sozialversicherungen meist als Wachstumsfaktor erwiesen. Sozialabgaben sind kein bloßer Kostenfaktor, vielmehr eine Investition in das Humankapital, die zu höherer Produktivität einzelner Unternehmen wie der Gesamtwirtschaft führt. Die gesellschaftliche Absicherung kollektiver Risiken gewährleistet die Nachhaltigkeit der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung und fördert den sozialen Ausgleich. Davon profitiert unmittelbar die ärmere Bevölkerung, doch sozialer Friede und eine gerechtere Gesellschaft bringen auch für die oberen Schichten Vorteile. So müssen Länder mit ausgeprägter Ungleichheit wie die USA enorme Summen aufwenden für Sicherheitsorgane, Strafvollzug und nicht zuletzt die Gesundheitsversorgung der Armen. Sozialer Ausgleich, wie ihn etwa die gesetzliche Krankenversicherung bewirkt, spart indes erhebliche volkswirtschaftliche Ressourcen, die für andere gesellschaftliche Aufgaben zur Verfügung stehen.

Allen Erkenntnissen zum Trotz predigen unzählige WirtschaftsexpertInnen landauf, landab die Ideologie des kurzfristigen, ausschließlich betriebswirtschaftlichen Gewinnstrebens: Der Wirtschaft nützt alles, was die Produktionskosten der Unternehmen senkt. Volkswirtschaftliche Auswirkungen haben keinen Platz im Shareholder-Value-Denken. Das Stieren auf die standortspezifischen Lohnkostenanteile – tendenziös als „Lohnnebenkosten“ bezeichnet – führt zum Tunnelblick.

Allen seriösen Berechnungen zum Trotz bauschen die ReformerInnen den minimalen Effekt der Krankenversicherungsabgaben auf die Herstellungspreise deutscher Produkte unzulässig auf. Lieber beschränken sie sich auf einen simplen internationalen Vergleich der unmittelbaren Arbeitskosten, als „Lohnstückkosten“ in Betracht zu ziehen oder eine höhere Steuerbelastung mitzubedenken.

Das liegt sicherlich auch daran, dass sich global operierende Unternehmen oft erfolgreich vor Steuerzahlungen drücken. Daraus ergibt sich ein Argument gegen die Einführung eines steuerfinanzierten Gesundheitssystems: Gerade die Gewinne international operierender Unternehmen entziehen sich oft dem Zugriff der Finanzminister. Die Gerechtigkeit eines staatlich finanzierten Gesundheitswesens hängt aber von der Ausgestaltung und Wirksamkeit des Steuersystems ab. Besonders perfide sind daher Vorschläge, die Mehrwertsteuer für den sozialen Ausgleich der Kopfpauschale zu erhöhen. Konsumsteuern belasten die unteren Einkommen relativ mehr, größere Fairness gewährleisten einkommensabhängige progressive Steuern.

Die Sozialsysteme spiegeln getreu die Wertvorstellungen und Empfindungen einer Gesellschaft

Ohnehin weist auch Deutschland seit Jahren eine zunehmend ungleiche Einkommensverteilung auf. Das Steuersystem allein ist völlig überfordert, eine effektive Umverteilung zu gewährleisten – erst recht bei sinkenden Spitzensteuersätzen. Besonders in Krisenzeiten sind steuerfinanzierte Systeme erheblich kürzungsanfälliger als soziale Krankenversicherungen. Wer beobachtet, wie Hans Eichel die Budgets der Ministerien kürzt, den muss die Vorstellung eines steuerfinanzierten Gesundheitswesens Angst und Bange machen. Die Abhängigkeit vom Staatshaushalt führt bei knappen Kassen unvermeidlich zu Rationierung, Wartezeiten und Versorgungsengpässen.

Soziale Krankenversicherungen gewährleisten hingegen eine weitgehende Entkoppelung gesundheitspolitischer Entscheidungen von der Regierung. Sie nehmen ausschließlich zweckbestimmte Mittel ein, die sie für die Gesundheitsversorgung ihrer Mitglieder aufwenden müssen. Durch Anpassung der Beiträge an die Ausgaben erfüllen sie am zuverlässigsten die Aufgabe einer angemessenen Versorgung der Bevölkerung. Das Solidarprinzip, das eine wirksame Umverteilung garantiert, stößt hierzulande auf breite Unterstützung in der Bevölkerung. Ein grundsätzlicher Umbau der Sozialsysteme widerspräche dem Wunsch von drei Vierteln der BundesbürgerInnen. Das sollte im allgemeinen Reformgebrüll nicht untergehen. JENS HOLST