Alles neu, rasend schnell

20. JAHRHUNDERT Europa durchlebte von 1900 bis 1915 einen Taumel, der Alltag, Kunst und Politik erfasste. Philipp Blom zeigt, wie das moderne Europa entstand

Werke von Picasso oder Strawinsky lösten heute schwer nachvollziehbare Publikumsaufstände aus

VON MANUEL KARASEK

Das hundertjährige Gedenken an die „Mutter aller Katastrophen im 20. Jahrhundert“, wie Golo Mann einst den Ersten Weltkrieg charakterisierte, liegt fünf Jahre vor uns. Philipp Blom, der in den letzten Jahren nicht allein als Historiker hervortrat, sondern ebenfalls als Verfasser fiktiver Werke, nennt sein jetzt auf Deutsch erschienenes Buch „Der taumelnde Kontinent“, was schon ein wundervoller und dramatischer Titel ist, der allerdings ein wenig in die Irre führt.

Denn der 1970 geborene Wiener Historiker Blom beschreibt die einzelnen 15 Jahre Vorkriegszeit nicht im Zeichen des Menetekels, sucht für seine Darstellung nicht die tragisch-attische Bühnenordnung. Er geht subtiler vor.

Die knapp 500 Seiten bieten 15 Kapitel – jedes davon widmet sich einem Jahr und einem Themenschwerpunkt. Das Eingangskapitel, das das Jahr 1900 thematisiert, befasst sich beispielsweise mit der Weltausstellung in Paris – und ist eine schöne Schilderung einer hegemonialen, vorwiegend europäischen Selbstdarstellung. Blom steht herrliches Material zur Verfügung, um die demonstrierte imperiale Prachtentfaltung zu beschreiben; und auch sein Befund hat etwas überzeugend Klares, wenn er die tiefen Unsicherheitsgefühle der Zeit umreißt als ein Ergebnis der enormen Geschwindigkeit in der industriellen Entwicklung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Veränderungen.

Bloms Buch „Der taumelnde Kontinent“ ist ein interessantes und anziehendes Porträt einer Epoche; jedoch hat es auch seine Schwächen.

1908 gab es in London eine Demonstration mit einer halben Million Teilnehmern, die das Wahlrecht für Frauen forderten. Eine ausführliche Erzählung der frühen Frauenrechtsbewegung folgt. Wieder setzt Philipp Blom sein reiches Material so klug und geschickt ein, dass es selbst gut Informierte überraschen wird. Wieder ist da eine vorwiegend narrativ-lineare Struktur zu erkennen, die die Geschichte der Suffragetten, wie die Frauenrechtlerinnen genannt wurden, gewinnend zu erzählen weiß. Doch gerade der lineare Verlauf gerät ein wenig in den Zustand einer trägen Masse. Es ist das Problem der zwingenden Abfolge, das Blom erzählerisch nicht lösen kann. Das historische Material ist unbestritten attraktiv, aber auch riskant.

Muss man, um ein anderes Beispiel zu nennen, die Geschichte der Marie Curie oder die Erfolgsstory Albert Einsteins, so interessant beide Lebensläufe auch sind, noch einmal derart entlang des Biografischen erzählt bekommen? Letztendlich unterwandert das Aufzählen der Ereignisse gerade den Erzählprozess. Und das Absurde dabei ist: Blom unternimmt alles, um nicht in die Falle des chronologischen Erzählens hineinzugeraten. Nur bekommt er manchmal sein reiches Material nicht anders in den Griff, als sich mit Redundanzen auszuhelfen.

Woran liegt das? Bloms Buch fehlt es nicht an einer Idee. Aber es fehlt ihm die Obsession, die von einer Idee ausgeht. Die Frage, warum sich eine eigentlich hoch entwickelte Gesellschaft fast nur noch durch ein bis dahin ungekanntes Ausmaß barbarischer Gewalt Ausdruck verschaffen konnte, ist ja nicht bloß rhetorisch, sondern berührt eine alte Wunde, aus der der Schlangenkopf unseres ambivalenten Zivilisationsprozesses stets hervorzukriechen scheint. Wie weiß das Blom zu interpretieren?

Die Industrialisierung hat das traditionelle männliche Rollenverständnis unterwandert

Er entscheidet sich für folgende Lesart. Jedes Kapitel betont den Werteverlust in einer männerorientierten Gesellschaft, die aus dem patriarchalischen Geist entstanden war. Die Industrialisierung hat das männliche Rollenverständnis unterwandert, so Blom weiter, die Maschinen ersetzen die traditionelle männliche Körperkraft, ja degradieren sie zu bloßen Muskelspielereien. Die starke Militarisierung der Gesellschaften ist dabei Ausdruck einer kollektiven Unsicherheit. Das ist eine ganz gute, nonchalant vorgetragene These, aber sie ist nicht ganz neu. So ist Bloms Buch zwar gut lesbar, aber es fehlt ihm von Zeit zu Zeit das Bezwingende.

Ein anderes Beispiel unterstreicht das Dilemma eines lesenswerten Textes. Blom beschreibt anschaulich und unterhaltsam, wie Kunstwerke von Picasso oder die Uraufführung von Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ heute schwer nachzuvollziehende Publikumsaufstände ausgelöst hatten – und deutet die Empörung als Ausdruck einer tiefen Angst, in der man den Fortschritt schon haben wollte, die Veränderungen, die dieser mit sich brachte, jedoch ablehnte. Gerade an der Kunstrezeption ließ sich dann die Problematik einer sich immer weiter der Technik verschreibenden Gesellschaft gut ablesen. Es gab eine Unauflösbarkeit der soziokulturellen Problemkomplexe und somit keine produktiven Annäherungen zwischen den einzelnen Positionen, die den technischen Fortschritt und die Forderungen einzelner Gruppen (Arbeiter, Frauen) vertraten.

Das zeigt ja, dass es durchaus vorteilhaft gewesen wäre, wenn Blom mehr Deutungsmuster gesucht hätte, statt sich immer auf das Narrative zu verlassen.

■ Philipp Blom: „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“. Hanser Verlag, München 2009. 536 Seiten, 25,90 Euro