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Eiskalte Faszination

Es ist beeindruckend, welche Faszination die totale Einöde auf die Menschen auszuüben vermag. Interessanter als die Dokumentationen über Polarfahrten ist die innere, die symbolische Bedeutung der weißen Welten. Warum schickt beispielsweise Mary Shelley ihren Frankenstein auf der Jagd nach seinem Monster ins Packeis des Nordens? Warum nimmt Stefan Zweig Robert Scotts Scheitern am Südpol in seine Sternstunden der Menschheit auf? Warum schließlich beschäftigten sich in den Achtzigerjahren zwei Nachwuchsgrößen der deutschen Literatur, Sten Nadolny und Christoph Ransmayr, mit der Nacherzählung von Polarexpeditionen des 19. Jahrhunderts?

Im 19. Jahrhundert hält mit der Romantik die Unterscheidung des Erhabenen vom Schönen Einzug in den literarischen Diskurs. Frankenstein, der auf der Flucht bzw. auf der Suche nach dem von ihm geschaffenen Monster viel herumkommt, fährt unter anderem auch das Rheintal herunter. Die Landschaft ist schön, pittoresk, harmonisch. Was die Seele Frankensteins aber wirklich beutelt, das Sublime, das eine Mischung aus Horror und Faszination hervorruft, liegt anderswo: die Gletscher der Alpen und das Eis der Arktis – kalt, weiß, erhaben.

Hier zeigt sich die wahre Größe in der Niederlage, nicht im Erfolg. Es ist eben nicht Roald Amundsen, Erstbezwinger des Südpols, den Stefan Zweig in seine Sammlung bedeutendster Momente der Menschheitsgeschichte aufnimmt, sondern Robert Scott, der zu spät kommt und auf dem Rückweg zusammen mit drei Gefährten an Hunger und Kälte stirbt.

Das Pathos, mit dem Zweig schreibt, ist heute undenkbar. Wenn Polarforschung zum Thema wird, dann als Folie der Dekonstruktion des Heldenmythos, wie in Ransmayrs „Die Schrecken des Eises“ und der „Finsternis“. Ransmayr nimmt sich die authentische österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von 1872–74 und unterlegt sie mit der fiktiven Geschichte des Enkels eines der Matrosen, der 1981 den Spuren der Expedition nachfährt und sich im Eis von Spitzbergen verliert. Bemerkenswert dabei ist, dass bei aller Demontage der „Helden“ – sie hassen sich gegenseitig, sind zum Teil bereit, aus Ehrgeiz ihr Leben zu opfern, entdecken eigentlich gar nichts – die Faszination, die die Expedition ausstrahlt, letztlich ungebrochen bleibt. Wahres Heldentum ist eben unzerstörbar.

MARTIN HAGER