Die Lauterkeit der amerikanischen Sache

Alles gemacht, was man mit einer Klarinette tun kann: Artie Shaw, der Star der Swing-Ära, ist tot. Mit Lana Turner und Ava Gardner verheiratet, kam er nicht nur als Musiker, sondern auch als Scheidungsexperte zu beachtlichem Ruhm

Den Kritiker, der seinen Nachruf in der New York Times verfasste, hat er um zwei Jahre überlebt. Auch wenn er sich schon vor einem halben Jahrhundert von einer beachtlichen Karriere als Klarinettist und Big-Band-Leiter verabschiedete, die Musik ließ ihn nicht los. Artie Shaw zählte noch vor den Beboppern zu einer Jazzmusikerfraktion, die ihre Sache als seriöse Kunst verstanden wissen wollte. Die Fans, die ihn wegen seines Hits „Begin The Beguine“ (1938) als neuen King of Swing feierten, hielt er jedenfalls für ebenso verblödet wie die Musikindustrie, die von ihm verlangte, jeden Abend das gleiche Zeug zu spielen und ja keine Musik aufzunehmen, die das junge Tanzpublikum überfordern könnte. Dass er solche Ansichten auch öffentlich und deutlich kundtat, brachte ihm nicht nur Freunde ein.

Der am 23. Mai 1910 in New York als Arthur Jacob Arshawsky geborene Künstler konnte mit dem VIP-Rummel nicht umgehen. Schon kurz nachdem er den ebenfalls weißen Klarinettisten Benny Goodman als Swingkönig abgelöst hatte, begann er unter der Popularität zu leiden. Während eines Konzerts im Dezember 1939 wurde die Spannung zwischen den Erwartungen des Publikums und seinem eigenen musikalischen Anspruch für ihn unerträglich – er verließ die Bühne und tauchte in Mexiko unter. Fünfzehn Jahren später, nach diversen Comebacks, zog er sich eine Zeit lang nach Spanien zurück und ging täglich fischen. Irgendwann habe der Spaß an der Musik aufgehört, es sei nur noch um Geld gegangen, resümierte Shaw später. Alle seien gierig geworden, auch er, und dann kam noch die Angst hinzu. „Ich habe mich schlecht gefühlt, als ich zur Ware wurde“, sagt Shaw. 60.000 Dollar pro Woche waren damals eine gigantische Summe.

Entdeckt wurde Shaw 1935 bei einem Auftritt während der Umbaupause eines großen Tanzkonzerts in New York. Eigens hierfür hatte er „Interlude in B-Flat“ komponiert, ein kammermusikalisches Jazz-Ding für eine höchst ungewöhnliche Besetzung mit Klarinette, Streichquartett und klavierloser Rhythmusgruppe, das das völlig unvorbereitete Publikum mit großem Applaus akzeptierte.

Kurz vor „Begin The Beguine“ hatte er Billie Holiday engagiert, so ging Shaw als erster weißer Bandleader, der eine schwarze Sängerin als festes Bandmitglied verpflichtete, in die Jazzgeschichte ein. Auch die Touren durch den amerikanischen Süden, bei denen er schwarze Solisten vorstellte, gehörten zu seinen entschiedenen Taten und Statements gegen die gängige Rassentrennung. Oft mussten Konzerte abgebrochen und mit eigenen Sicherheitskräften besonders geschützt werden, um gewalttätige Auseinandersetzungen mit Rassisten zu verhindern.

Schon im frühen Stadium seiner Karriere geriet Shaw auch durch seine Ehen mit Lana Turner und Ava Gardner in die Schlagzeilen – später hielt er nicht nur Vorlesungen über Big-Band-Geschichte und Künstlereinsamkeit in profitorientierten Gesellschaften, sondern auch über die „ideale Scheidung“. Alle acht Ehen wurden geschieden. Sein Buch „The Trouble With Cinderella“ (1952) gilt als eine der bestgeschriebenen Autobiografien der Jazzgeschichte, auch später trat Shaw wiederholt als Buchautor in Erscheinung.

Jeffrey Eugenides hat in seinem Buch „Middlesex“ (2002) vermutet, der schnelle Beat und die wirbelnde Melodie von „Begin The Beguine“ garantierte die Lauterkeit der amerikanischen Sache und letztlich den Triumph der Alliierten. „Als drückte ihn die Wucht seines eigenen Spiels nach hinten“, beschreibt Eugenides die ausgelassene Körperhaltung Shaws. „Ich habe alles gemacht, was man mit einer Klarinette tun kann“, versicherte Shaw auch noch 40 Jahre nach dem Ausstieg aus seiner Klarinettistenkarriere, „mehr wäre ein Schritt zurück gewesen“. Am Mittwoch starb Shaw 94-jährig in Kalifornien. CHRISTIAN BRÖCKING