CANNESCANNES 6
Begegnung mit dem Satan höchstpersönlich

„Avez-vous vu l’Antichrist’?“, will die französische TV-Journalistin von einem Wiener Kollegen wissen, als wir aus dem Kino kommen. Es geht ihr um einen kurzen Kommentar zu Lars von Triers Wettbewerbsbeitrag „Antichrist“, aber man kann sie auch anders verstehen „Haben Sie den Antichrist gesehen“? Klar, Satan, der mir eben in einer dunklen Ecke des Palais du Festival die Hörner entgegenreckte!

Von Triers Film provoziert solche Scherze. Vor Beginn der Vorführung ist in der Salle Debussy eine Mischung aus Heiterkeit, Unruhe und Angst zu spüren, eine Aufgekratztheit, wie sie sonst rar ist unter den Journalisten. Im Presseheft findet sich ein Grußwort des Regisseurs, er kündigt einen „Blick in die dunkle Welt seiner Vorstellungskraft“ an. Vor zwei Jahren, schreibt er, sei er an einer Depression erkrankt und habe nicht arbeiten können. Sechs Monate später begann er, das Drehbuch zu „Antichrist“ zu verfassen. „Es war eine Art Therapie.“ Man glaubt ihm das gerne, sieht den Film als Externalisierung einer Psyche in Not, erinnert sich aber auch daran, dass sich von Trier schon immer gern als Sonderling in Szene gesetzt hat. Seine daraus resultierende Künstler-Persona ist Teil seines Oeuvres. Aufrichtigkeit und Scharlatanerie gehen unmittelbar ineinander über.

„Antichrist“ bietet vieles, was man aus Horrorfilmen kennt. Der Soundtrack schwillt dunkel-dräuend an, wenn die Protagonisten durch den Wald streifen, wenn der Wind ein Fenster aufstößt oder sich die Luke zu einem Speicher voller unheimlicher Gegenstände und Bilder öffnet. Viele Einstellungen sind so gewählt, dass sie der Perspektive eines unbekannten, potenziell gefährlichen Wesens folgen. Aus einem Fuchsloch schaut die Kamera auf Charlotte Gainsbourg, durch Farne und Äste auf Willem Dafoe. Die beiden spielen ein zerrüttetes Paar, das sich in eine entlegene Waldhütte zurückzieht. Ihr Sohn, vielleicht drei Jahre alt, fällt im Prolog zum Film aus dem Fenster, während die Eltern miteinander schlafen. Die Frau wird fortan von ihren Ängsten und Schuldgefühlen so geplagt, dass sie den Wahnsinn streift. Der Mann, von Beruf Therapeut, macht sie zu seiner Patientin. Gefilmt ist der Prolog in Zeitlupe, in Schwarz-Weiß, einer Coffee-Table-Ästhetik, in die eine sekundenkurze Hardcore-Penetrations-Einstellung hineinmontiert wird. Später sieht man einen erigierten Penis, aus dem Blut statt Ejakulat spritzt, noch später ein Close-up, in dem sich die Frau die Klitoris mit einer stumpfen Schere abschneidet. Alle Zeichen stehen auf Schock.

„Antichrist“ evoziert die Hexenverbrennung, jahrhundertealte Misogynie, den Kampf der Geschlechter und den von Ratio und Intuition. Wer ist der Teufel? Der Mann oder die Frau? Die Vernunft oder der Wahnsinn? Der Film nimmt diese Fragen ernst und zugleich nicht. Immer wieder gibt er seine eigenen Prämissen dem Gelächter preis, etwa wenn er einen Fuchs „Das Chaos herrscht“ fauchend in die Kamera sagen lässt. Von Trier ist ein talentierter Trickster, aber warum und wozu, das ist in „Antichrist“ egal. CRISTINA NORD