Wo Barcelona noch echt ist

Im boomenden Barcelona stehen die alten Stadtviertel unter Veränderungsdruck. Mit Raval hat sich ein neues Alternativ- und Kulturzentrum etabliert. Teil I der Wohnkonzepte-Serie „Citylization“

VON DIRK HAGEN

Schon seit einigen Jahren kommt man bei der Aufzählung der hippen Metropolen an Barcelona nun wirklich nicht mehr vorbei. Das „Kalifornien Europas“, „Europas Stadt der Jugend“ oder andere recht schwammige Beschreibungen geistern durch die Medienlandschaft und versuchen diesem „Hype“ einen Namen zu geben. Gerade an dem Jugend- und Strand-Image wurde dann auch von den Stadtoberen mit dem Ausbau der Promenaden, des historischen Hafens und der direkt an der Metrostation gelegenen Strände mächtig gefeilt.

Dabei hatte die katalanische Hauptstadt lange ein eher zwiespältiges Verhältnis zum Meer und Hafen. Erst mit den Olympischen Spielen 1992 ist der alte Hafen, der heute eigentlich nur noch für Hobbyschiffer und Touristen eine Funktion hat, überhaupt besser an die Stadt angebunden worden. Lange galten die an den Hafen grenzenden Viertel als Hort von Kriminalität und Drogen. Heute aber sind sie bevorzugtes Ziel flanierender Touristen.

Und el boom, damit ist die enorme Nachfrage an Wohnungen in der Stadt gemeint, geht weiter: Einige alte Industrie- und Wohngegenden, die zwar nicht mehr so zentral, dafür aber immer noch in akzeptabler Strandnähe gelegen sind, werden zurzeit großflächig abgeräumt und gleich durch komplett neue Wohn- und Geschäftsgegenden ersetzt – vorzugsweise für den gehobenen Standard.

Doch die negative Seite dieser Entwicklung wird immer offensichtlicher: Die Preise für Wohnungen oder für Zimmer zur Miete sind in der Kernstadt und besonders in den Quartieren der „alten Stadt“ nahezu explodiert – und reichen trotz der immer noch niedrigen Verdienstmöglichkeiten im Billiglohnland Spanien an das Niveau westdeutscher Großstädte heran. In nur einem Jahr sind in der ganzen Region die Preise für neu erbauten Wohnraum noch einmal um fast 20 Prozent gestiegen.

Gerade aber in der „alten Stadt“ hatten sich einfache Bevölkerungsschichten mit wenig Einkommen angesiedelt. Sie machten einst zusammen mit einigen Künstlern und Kreativen in den engen Straßen mit vielen kleinen Plätzen, traditionellen Cafés oder Bars das spezielle Eigenleben dieser Viertel aus. Für viele sind diese Viertel jetzt unerschwinglich geworden, und ganze Quartiere verändern sich rasant. Einige Ecken wie das Gebiet „Born“ mit Designergeschäften und Nike-Stores erinnern nun auch schon ein wenig an Berlin-Mitte.

Ein völlig anderes Bild bietet sich einem dagegen in Raval, einem weiteren Viertel der „alten Stadt“, abseits der großen Tourismuspfade gelegen. Vor einigen Jahren bei Nacht noch als „No-go-Area“ angesehen, ist hier heute in den engen Straßen und Gassen mit kaum modernisierten Wohnhäusern eine recht aktive und lebendige Alternativ- und Kunstszene entstanden.

Das am Hafen angrenzende Viertel wurde ab dem 18. Jahrhundert als Wohngebiet für Arbeiter gebaut, die aus den verschiedenen Teilen Spaniens, Marokko oder den Philippinen in dieses Gebiet mit hoher Bevölkerungsdichte eingewandert sind. In den letzten zehn Jahren wurde Raval besonders wegen der noch einigermaßen niedrigen Mieten Ziel einer erneuten Einwanderungswelle, diesmal aus Südamerika, Indien und Pakistan. Zusammen mit Studenten und Künstlern ist so ein buntes und interessantes Gemisch entstanden und in dieser Form sicher einmalig in der Stadt.

Kommt man von der Touristenflaniermeile, der Rambla, zu dem nur einige Fußminuten entfernten Rambla del Raval, scheint man fast in eine andere Welt einzutreten: dort Unterhaltung auf üblichem Fußgängerzonennivau inklusive Touristennepp, hier Treffpunkt und Marktplatz eines schillernden Gemischs verschiedenster Kulturen. Während die einstmals verruchten Gegenden in der Altstadt um das Barri Gòtic heute oft zahm und abgeschliffen wirken, sind in Raval trotz der recht präsenten Polizei noch illegale Märkte und der Straßenstrich anzufinden.

„Raval ist dort, wo Barcelona noch echt ist“, meint dann auch der Künstler und Kulturmanager Sigismond de Vavay. Schon seit einigen Jahren, zwischen verschiedenen Stadtteilen der Stadt herumziehend, hat sich de Vavay mit seinem internationalen Kultür Büro Barcelona, dem KBB, gezielt für Raval entschieden. Für den in Argentinien geborenen und mit ungarischem Pass ausgestatteten Kulturaktiven „ist es die Mischung von verschiedenen Kulturen, einigen Touristen und alteingesessenen Bewohnern“, die Raval zum interessantesten Ort der Stadt macht.

Doch die Vorboten des Wandels in Form von edlen Restaurants und modernen Designerläden tauchen nicht nur in der Joaquim Costa, Sitz des KKB und einer der neuen „Hot Spots“ im städtischen Nachtleben, auf. War die Konstruktion der Rambla de Raval als neues Zentrum des Viertels sicherlich ein Gewinn, so sind die von den Stadtoberen beschlossenen, direkt an der Rambla angrenzenden weiteren Projekte nun von zwiespältiger Natur: Ein ganzer Streifen alter Häuser wurde abgerissen – Platz für schicke Wohnungen, aber auch für neue Gebäudekomplexe mit Geschäften, Büros und einem Vier-Sterne-Hotel. Zusätzlich investiert die Stadt gerade in dieser Gegend weiter massiv in den Neubau und die Erweiterung großer staatlicher Kultur- und Bildungseinrichtungen.

Das Ganze treibt die Aufwertung der Innenstadt weiter voran, und schon jetzt ist abzusehen, dass der Boom auch nicht vor Raval Halt machen wird. Dem Viertel steht aller Voraussicht nach eine massive Umstrukturierung mit steigenden Mieten und Verdrängung von Teilen der Bewohner bevor – und damit eine Entwicklung, wie sie für Alternativviertel in westlichen Großstädten typisch ist. Fraglich ist, ob sich das Kulturgemisch von heute noch lange halten kann – und am Ende sich nicht doch der „neue Mix“ aus Touristenströmen und Markenstores auch hier durchsetzen wird.