KLEINE WELT
: Du kennst Lisa?

Gestatten: die Kleinstadtdynamik

Die Fußballmannschaft meines Liebsten ist ein Musterbeispiel des sozialen Friedens und unsere perfekte Jobbörse. Astrophysiker, Malermeister, Psychologen, Studenten, Schreiner oder Journalisten aus allen Ecken und Schichten kicken einträchtig zusammen und helfen uns aus, wenn wir mal wieder Möbel abschleifen wollen oder bei einem Dreh einen Assistenten brauchen. So landete Juri bei uns, für einen kleinen Job. Offenes Lachen, blonde, längere Haare, strahlend blaue Augen, das Abitur erst zwei Sommer her.

Wir tranken Wein, besprachen dies und das, und irgendwann erwähnte er dann Freiburg, seine Heimatstadt. Ich komme von dort. Das Unvermeidliche setzte ein, zur Verortung des anderen an einem Tisch fern des Badener Landes. Gestatten: die Kleinstadtdynamik. „An welcher Schule warst du?“, fragte ich. „Am So-und-so-Gymnasium“, antwortete er. „Da kenne ich nur einen Menschen“, sagte ich, „Lisa G.“ Lisa kenne ich, seit sie fünf Jahre alt ist, da war ich 15. Ich war jahrelang ihre Babysitterin. Ich habe ihr Geschichten vorgelesen, Schlafengehzeiten verhandelt, mit ihr und ihrem Bruder ein Wochenende verbracht, wenn ihre Eltern zu einer Hochzeit anderswo eingeladen waren. Lisa wurde mein Patenkind, Familie G. wurde meine Familie.

„Lisa G.“, sagte Juri verträumt, „Mann, war ich in die verliebt!“ Bitte? Meine Lisa, die diesen Sommer 20 wird? Mit der ich gebastelt und Hausaufgaben gemacht habe? „Wir waren in den Ferien zusammen mit dem Hausbötchen ihrer Eltern unterwegs, sie und wir vier Jungs. Sie war die Jüngste und ein Mädel, aber oh Mann, trotzdem der Chef! Bildhübsch, und so normal geblieben.“ Lisas Eltern, meine Freunde, haben einer Jungshorde das Boot, das Auto und die Tochter überlassen? Coole Säue. Gerade bin ich 30 geworden, Kinder in Planung. Ich muss mal dringend in Freiburg anrufen.

MIRIAM JANKE