Solitäre Tragödin

Von der Schönheit der radikalen Tat: In der hyperästhetischen Inszenierung von Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ am Odéon-Theater in Paris spielt Isabelle Huppert die Hauptrolle mit leiser Distanz

Die Körper im Raum gruppieren sich zu einer Architektur der Beziehungen

VON ANDREAS KLAEUI

Schönheit. Das wird es am Ende gewesen sein: Wenn eine Pistole knallt, im hyperbolischen Bogen vom Körper wegfliegt und Hedda Gabler im langsam verdämmernden Bühnenlicht niedergestreckt liegen bleibt. Es ist das wirklich schöne Schlussbild einer sehr schönen Inszenierung. Vielleicht ist sie nur ein wenig zu schön und darum auch kalt.

Schönheit: Das ist, was Hedda Gabler sucht. Die Schönheit des Absoluten. Die Schönheit einer radikalen Tat. „Könnten Sie darauf achten … dass das in Schönheit geschieht?“, bittet sie ihren Jugendgeliebten Eilert Løvborg noch, bevor sie ihn definitiv verabschiedet, und dann gibt sie ihm eine Pistole mit. Løvborg schafft es dann doch nicht. Das ist Hedda Gablers Tragik: dass alle um sie herum mit der Schönheit nur flirten.

Ihr Pantoffelgatte Tesman, der die Hochzeitsreise statt der Frau so faszinierenden Themen wie dem „Kunsthandwerk im mittelalterlichen Brabant“ widmet (Pascal Bongard). Jugendflamme Løvborg, der genialische Bücher schreibt, aber sich am Ende doch nur aus Versehen erschießt (Christophe Grégoire). Schulfreundin Thea, die gegenüber der Kunst im Allgemeinen und Løvborg im Besonderen einiges an hühnerhafter Mütterlichkeit entwickelt (Norah Krief). Richter Brack, der sich nur als Hahn im fremden Korb zu installieren sucht (Jean-Marie Winling). Zwischen ihnen allen ist sie die unstabile Mitte, um Haupteslänge kleiner und noch in der nächsten Nähe von einem entsetzlichen Distanzraum umgeben. Hedda Gabler ist Isabelle Huppert.

Adorno hat Hedda Gablers Ästhetizismus als radikalen Protest gegen eine aufs Private reduzierte bürgerliche Moral identifiziert. Der französische Regisseur Eric Lacascade, der Ibsens „Hedda Gabler“ jetzt im Pariser Odéon herausgebracht hat, zeigt Hedda als Solitär in einer für sich schon wieder hyperästhetischen szenischen Geometrie.

Das Stück besteht ja aus wechselnden Dreiecksverhältnissen, und Lacascade erfindet deutliche Körperbilder für Ibsens Verunsicherungschoreografie. Seine Inszenierung geht von einer dominanten Form aus, von der Symmetrie des Raums, von der Architektur der Beziehungen. Bühnenbildner Philippe Marioge hat ein Dekor im minimalistischen Chic gebaut, wie man ihn auch in Wohnungen an den angesagten Pariser Faubourgs finden kann („habiter zen“ lautet dort derzeit das Gebot der Stunde).

Ein Holz- und Polsterarrangement in erdigen Tönen um einen knöcheltief mit Wasser gefüllten Plexiglasrhombus: der in dem Maß Fremdkörper und ein durchsichtiges Zentrum dieser Chaiselongue-Symmetrie ist, wie Hedda Fremdkörper und undurchsichtiges Zentrum von Ibsens Figurenkonstellationen ist.

Immer wieder klopft da einer dem anderen kameradschaftlich auf die Schulter und schlägt ihn dabei, immer wieder fassen sich zwei freundschaftlich an den Händen und stoßen sich dabei weg. Ob die Figuren sich in alle Ecken verziehen oder auf einer Chaiselongue verknäueln – immer führt Eric Lacascade die psychologischen Bewegungen über in Bewegungen der Körper. Das Problem: Es geht nur mit Ausnahmeschauspielern. Tesman und Tante (Elisabetta Pogliani) bleiben erschreckend konventionell, Thea und Løvborg sind geradezu verstörend gut.

Eric Lacascades formbewusste Inszenierung hat viel hyperästhetischen Reiz, sie bleibt aber auch kalt und distanziert: gerade wie die alle betörende, alle zerstörende Hedda Gabler selbst. Da muss man dann schon von einer Huppert-Ästhetik sprechen: dieser eigentümlichen Dialektik von Zerbrechlichkeit und Rigidität, von intensiver emotionaler Bewegung und gleichzeitig einer kühlen Distanz zum Gefühl und zu sich selbst, mit der Isabelle Huppert Momente größter Direktheit schafft.

Das funktioniert sogar in der kruden und akustisch suboptimalen Halle der Ateliers Berthier, in der das Odéon-Theater vorübergehend untergebracht ist (während das Stammhaus gerade umgebaut wird).

Mit ihrer leisen Distanz schafft Isabelle Huppert die betäubendste Intensität – wenn sie Løvborgs Manuskript verbrennt und beschwörend die Hände übers Feuer hält wie eine griechische Tragödin, wenn sie sich im Entsetzen über die Tat in sich zurückzieht und wie in Trance wiegt, wenn sie bis zum Schluss nicht mehr aus diesem transzendentalen Zustand zurückkehrt und wie schlafwandlerisch durch den ganzen vierten Akt geht, bis sie sich in einem verzweifelt emanzipatorischen Akt erschießt: Das hat Schönheit.

Odéon – Théâtre de l’Europe. Ateliers Berthier, 8 bd Berthier, Paris-17 (Métro: Porte de Clichy). Tel. +33 1 44 85 40 40, www.theatre-odeon.fr. Vorstellungen: bis 5. März, dienstags bis sonntags