Rock statt Tütü

Recherche von innen, Druck von außen: Während Ballett-Chef Mario Schröder in Kiel mit Choreografien zu Pink Floyd und Rammstein Publikumsrekorde bricht, wird die Eigenständigkeit der Sparte immer häufiger in Frage gestellt. In Hannover hat Stephan Thoss deshalb aufgegeben

von Marga Wolff

Mit aller Kraft hebt sich die Tänzerin, die Arme gen Himmel gereckt, auf die halbe Spitze. Unendlich langsam setzt sie ihren ersten ausholenden Schritt, spannt den Körper bis in die letzte Muskelfaser. Plötzlich lässt sie los, wirft stolz den Kopf in den Nacken, bändigt den Schwung sogleich in einer scharfen Drehung. Viel später erst setzt ein rauer, vibrierender Gesang ein – und schroffe Gitarrenklänge.

Stephan Thoss macht mit dem Auftakt seines neuen Ballettabends Carmen an der Staatsoper Hannover deutlich, worum es ihm geht: den Tanz als kreative Kunst, oft als inneren Kampf. Die Reproduktion fest geschriebener Formen wie im klassischen Ballett sind seine Sache nicht. Ganz im Sinne des modernen Ausdruckstanzes. Dessen Heimstatt ist die von Gret Palucca gegründete Dresdner Schule, und deren Lehren hat Hannovers Ballettchef verinnerlicht: Immer wieder neu entwickelt er seine choreografische Sprache, in tiefer Auseinandersetzung mit einem Thema, einer Musik.

Dieser Abend ist inspiriert von der Kunst des Flamenco. In ihr gilt es, den Dämon aufzuspüren. „Duende“ heißt das in Andalusien, und gemeint ist damit der Moment, wenn Leidenschaft, Verzweiflung, Hoffnung in einer einzigen Geste zusammen treffen. Und die Tänzerin Mia Johansson kommt seiner magischen Kraft in ihrer Anfangssequenz gefährlich nah. Die Uraufführung des getanzten Liederzyklus Carmen de Cante Jondo hat Thoss der Carmen-Inszenierung des Schweden Mats Ek vorangestellt, der auf Einladung des Ballettchefs seine Choreografie von 1992 zur erfrischend aufbereiteten Opernmusik Georges Bizets mit dem Hannoveraner Ensemble einstudiert hat.

Ganz schön mutig von Thoss, sich so direkt mit dem renommierten Choreografen zu messen, dessen skurrile Tanzsprache international als Markenzeichen gehandelt wird. Denn, verglichen hat man ihn schon des öfteren mit Ek. Umso höher also der Anspruch, unmittelbar nebeneinander bestehen zu wollen. Doch der Abend geht auf, die Zuschauer sind begeistert.

Kaum zu glauben, dass noch jemand auf die Idee kommt, Thoss’ Position, die er sich in der Tanzwelt und beim Publikum aufgebaut hat, in Frage zu stellen. Doch während der Arbeit am neuen Stück waren die Verhandlungen mit Hannovers designiertem Intendanten Michael Klügl gefallen. Kurz vor der Premiere wurden sie für gescheitert erklärt. Klügl hatte eine klassischere Ausrichtung verlangt, außerdem sollten die Tänzer für Musicalaufführungen bereit stehen. Eine gängige Praxis an deutschen Theatern: Das Ballett hat zur Dekoration der anderen Sparten anzutanzen. Jemand wie Thoss, dem an der Entwicklung einer eigenen Sprache zusammen mit seinem Ensemble gelegen ist, konnte dem nur eine Absage erteilen. Auf eigenen Wunsch hat er seinen im Sommer 2006 auslaufenden Vertrag nicht verlängert. Konservativ, gewürzt mit einer Portion Glamour, dahin geht derzeit kulturpolitisch der Trend. Der wird in Berlin gesetzt: Und dort sind, mit einem Ballettprinzen wie Vladimir Malakhov an der Spitze des Staatsballetts, die Weichen bereits eindeutig gestellt.

Thoss, der zeitweilig als John Neumeiers Nachfolger in Hamburg gehandelt wurde, hatte seine Direktorenlaufbahn 1998 in Kiel begonnen. Dort hatte er in kürzester Zeit dem über Jahre krisengeschüttelten Ballett zu neuem Profil und überregionalem Ansehen verholfen. Als er 2001 nach Hannover wechselte übernahm Mario Schröder seinen Posten an der Förde. Beide gehören derselben Generation an, beide haben die Palucca-Schule absolviert. Schröder gelang es, Thoss’ große Erfolge bei Kiels Zuschauern noch zu toppen: mehr als 95 Prozent Auslastung – das soll ihm erst einmal jemand nachmachen.

Rock-Ballett heißt Schröders Rezept, ein von ihm kreiertes Amalgam aus dynamisch akrobatischem Tanz und packender Musik, mit dem er das Kieler Publikum im Sturm eroberte. The Wall zur Musik von Pink Floyd war sein erster Streich, es folgte Jim Morrison – König der Eidechsen. Biografien exzentrischer Ausnahmekünstler – Klaus Kinski und Vincent van Gogh hat er sich ebenfalls gewidmet – reizen den Choreografen. Analytisch nähert er sich ihnen, um ihrem Mythos auf die Spur zu kommen. An den inneren und äußeren Widersprüchen entzündet sich, ähnlich wie bei Thoss, die Fantasie, den Dämon will auch Schröder beim Schopf packen.

Doch wo Thoss sich der Form verschreibt, treibt Schröder seine Tänzer – Männer wie Frauen – zum Äußersten. Jeder Auftritt wird zum Kraftakt, die Choreografie über weite Strecken zum Hochleistungsparcour. Der richtige Ansatz, um sich ein Stück wie Fight! vorzunehmen. Zu Musik von Marilyn Manson, Monteverdi und Rammstein, angeregt durch Chuck Palahniuks durch die Verfilmung mit Brad Pitt bekannt gewordenem Buch Fight Club, hatte Schröder das Stück zusammen mit seiner Schwester Silvana Schröder 2003 am Opernhaus Dortmund herausgebracht. Am 29. Januar findet die Kieler Premiere statt.

Schröder hat in Kiel bereits einen Intendantenwechsel unbeschadet überstanden. Doch die unliebsamen Erfahrungen seiner Schwester als Leiterin des Balletts in Gera vor Augen, weiß er, dass „vielerorts das Verhältnis zwischen Intendanz und Ballettdirektion gründlich missbraucht wird“. Ohne Vertrauen und Partnerschaft, sagt er, sei für ihn eine Arbeit unmöglich.

Den Wunsch nach glänzender Klassik befriedigt er mit einer jährlichen Ballettgala mit internationalen Gästen. Denn er selbst verspüre kein Interesse, sich eines Ballettklassikers anzunehmen. Im Gegensatz zu Thoss, der mit Zwischen Mitternacht und Morgen: Schwanensee eine zeitgenössische Neuinterpretation von Tschaikowskis beliebtestem Ballett für Hannover schuf und schon zu Kieler Zeiten mit der Titelpartie von Giselle eine der berührendsten Rollenkreationen für seine Protagonistin Masa Kolar kreiert hatte. Mats Ek lässt sie in Hannover die Carmen tanzen – überzeugend, begeisternd. „Diese tiefe Erforschung im modernen Tanz“, stellte der Schwede in seiner improvisierten Dankesrede nach der Premiere fest, „ist heute leider selten geworden.“

Aufführungen: „Carmen“, Ballettabend, 26.1., Opernhaus Hannover, Web: www.staatstheater-hannover.de.„Fight!“, Ballett von Mario Schröder / Silvana Schröder, Premiere 29.1., dann 10. 2., 20. 2., Opernhaus Kiel,Web: www.theater-kiel.de