Das Schweigen der Blutspender

Was die Welt noch immer zusammenhält: Der zähe rote Körpersaft und seine Besitzer

Eine DRK-Matrone ruft: Schwule können gleich wieder nach Hause gehen

In allen Ärzte-Wartezimmern, global gesehen, wird flach geatmet und flach geschwiegen. Man fühlt in sich hinein, ob es wirklich noch wehtut. Meistens tut es, wenn man dann vor dem Arzt sitzt, nämlich nicht mehr weh und man kommt sich wie ein Simulant vor. Man denkt, dass alle, die da auf den Stühlen warten, sicher bald sterben werden müssen. Nur man selber nicht. Wer war der Letzte, bitte schön?

Blutspender schweigen anders. Sie atmen und sie schweigen tief. Ihnen tut nichts weh. Sie schauen durchs Fenster, hinter dem eine dottrige Sonne verschwindet, auf die DRK-Durchhaltepropaganda an der Wand („Leben ist schön“) oder aufs Linoleum. Man schweigt sich seiner Heldentat entgegen, einem süßen Schmerz, man will an die Nadel. Gleich wird man sich aufs knisternde Laken legen, die Schuhe darf man anbehalten („Nutzen Sie bitte eine Unterlage“). Man wird ein Gesicht machen, wie jemand, dem diese Liegestatt eine Art Heimat geworden, sozusagen Zweitwohnung ist („Ich liege immer an der Tür“). Man wird sich ein trinkhalmdickes Objekt in den Körper stechen lassen („Bitte ein Faust machen!“) und dann wird es aus einem herauslaufen, langsam und pulsend, wie das Leben vergeht („Schööön pumpen, gell!“). Oh, so heiter könnte Sterben sein.

Draußen die Menschen gehen ihren harmlosen Unternehmungen nach und rechnen wie immer alles in Geld um. Sie ahnen ja nicht, was für eine Versammlung hier beisammen ist an diesem Nachmittag mit Blick auf den Bahnhof von Bernau. Sie sitzen hier nicht für Geld. Hier geht es um den Stoff, der die Welt zusammenhält. Es sind die Altruistinnen und Altruisten des Großkreises Barnim, ein paar Pankower und ein paar Uckermärker sind auch dabei. Man kennt einander nicht, ist sich aber schon vielmals im Warteschweigen verbunden gewesen. Wer war der Letzte? Manche lesen lange in ihrem Blutspenderausweis in der Rubrik „Laufende Blutspende“. Ein Journal kleiner Siege gegen sich selbst und gegen den scheinbar unaufhaltsamen Lauf der Dinge. Eine Vita im Kampf gegen den Egoismus da draußen, die Gleichgültigkeit, den Konsumismus und gegen die selbstzerstörerische Schwächung des Blutes durch leichtfertig inhalierte Viren, Nikotin, Alkohol und sauerstoffarme Existenzweisen (früher zählte das Onanieren noch dazu).

Man ist Rhesus positiv oder Rhesus negativ. Vor allem aber ist man eine tapfere menschheitliche Minderheit, die begriffen hat, worauf es ankommt. Man ist das Prinzip Selbstlosigkeit, und zwar das Prinzip aus Fleisch und – na, selbstverständlich – Blut. Man schweigt und schaut auf den Bahnhof oder aufs Parkdeck vom Einkaufszentrum: Wenn ihr wüsstet, ihr!

Und man ist heterosexuell bzw. gar nicht sexuell. Da können die da draußen Homoehen eingehen und schwule Pärchen können Kinder adoptieren, wie sie wollen – die Welt wird von „gesunden“ Blutspendern gerettet. Blut auch für Schwule! Bevor man sich aufs Laken streckt, muss man Felder auf einem Kärtchen ausmalen – eine Art Strichcode, beschwörende Höhlenzeichnung: Ich verkehre nicht anal und verkehre auch ansonsten nicht mit einem, der mit einem anderen, so viel ich weiß, anal verkehrt – oder so ähnlich. Bei bestem Wissen und Gewissen. Aber es kommen Fälle vor! Heute schon der zweite. Deshalb ruft eine Matrone des DRK-Blutspendewesens in unserer opferrituelles Schweigen hinein: Schwule können gleich wieder nach Hause gehen.

Heute ist es sowieso anders. Heute ist das Schweigen negativ geladen. Das Wort „Spende“ ist zum Allerweltswort geworden, leichte Münze. Wenn „Blut“ nicht davor stünde – es würde gar keinen Spaß mehr machen. Die Deutschen sind zu „Spendenweltmeistern“ geworden. Zwei Drittel der Berliner haben schon gespendet und spenden immerfort und vergessen wahrscheinlich aufzuhören, wenn ihr Regierender Bürgermeister nicht endlich „Halt!“ sagt. Wir starren auf die dottrige Sonne überm Bahnhof und denken laut in unser Wartegemeinschaftsschweigen hinein: Tja – Geld! Aber kein Blut! Blut spenden sie nicht.

Nein, wir sind noch immer was Besonderes. Man denke nur an einen Verunfallten auf der A11, der unter einem Kleintransporter liegt! (Meist sind es Kleintransporter.) Aber daran denkt jetzt keiner. Alle denken an die Welle und an die Leichen. Alle denken nur an Geld. Die Regierung schickt nicht Blut, weil niemand auch nur mit einer Silbe nach Blut gerufen hat, die Regierung, die schickt Geld! Das DRK schickt eilig Wasser, wir spenden unverdrossen Körpersaft.

Einer sagt zu einer, die gar nicht gefragt hatte, und für alle, die es hören sollen: „Wir setzen nischt von der Steuer ab!“. Ein Raunen und fröhliches Hüsteln schüttelt uns. Was für eine absurde Vorstellung – unser Herzblut uns als geldwerte Leistung vom Eichel quittieren zu lassen! „Wir sind ja auch keine Rennfahrer“, sagt die Frau, die nicht gefragt hatte. Jetzt heben wir die Mundwinkel und die Blicke und schauen amüsiert auf den Bahnhof herunter: Da kräpeln sie, die komischen Spender!

Nachher, wenn alles überstanden ist, setzt man sich zu Tisch. Es gibt Mortadellabrötchen, Kaffee und Banane. Man blinzelt einander zu: Mal wieder ein wenig die Welt gerettet, auch wenn sie es nicht merkt. Wir sind – nein: „gute Menschen“ würden wir niemals sagen! Nicht schwul – das reicht. MATHIAS WEDEL