1944: Es ist der 24. Mai. Ein Zug läuft ein

VON SASCHA TEGTMEIER

Es ist ein Tag wie so viele im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im Morgengrauen des 24. Mai 1944 ist ein neuer Zug eingetroffen. In den Viehwaggons eingepfercht sind 3.500 ungarische Juden aus dem Ghetto Berehovo in den nordöstlichen Karpaten. Die Deportierten steigen an der Rampe aus. Sie müssen sich in einer Reihe aufstellen und werden in zwei Gruppen geteilt – die einen sollen im Lager arbeiten, die anderen werden noch an diesem Tag in die Gaskammern gezwungen. Ein Tag wie so viele in Auschwitz-Birkenau. Wenn nicht zwei SS-Männer diesen 24. Mai mit ihren Kameras protokolliert hätten. Und wenn nicht eine junge Frau namens Lili Jacob ihre Bilder ein Jahr später gefunden und sich darauf erkannt hätte.

Denn auch die damals 18-Jährige war unter den Deportierten. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie ihre Verwandten sah. Sie überlebte Auschwitz und wurde in den letzten Kriegswochen in das Konzentrationslager Dora-Mittelbau bei Nordhausen gebracht.

Am 9. April 1945 liegt Lili im Krankenrevier und erholt sich von einer Typhuserkrankung. Sie hört die anderen Häftlinge rufen, dass die Amerikaner sie befreien. Als sie auf ihrem Weg nach draußen vor Schwäche zusammenbricht, tragen sie einige Mithäftlinge in eine verlassene SS-Kaserne. Dort sucht sie – wieder zu sich gekommen – nach warmer Kleidung. In einem Schrank findet sie das gebundene Album.

Ende des Monats erscheint ihr Fund in dem Band „Das Auschwitz-Album. Geschichte eines Transports“ im Wallstein Verlag. Es ist nicht das erste Mal. Nach Kriegsende erschien ein Teil der Fotos bereits in dem Buch „Die Tragödie des slowakischen Judentums“. 1963, während der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, fand das Album große öffentliche Beachtung. Lili Jacob hielt es im Zeugenstand in den Händen, weigerte sich aber, es dem Gerichtshof als Beweismaterial bereitzustellen. Sie gab es stattdessen 1980 nach Yad Vashem. Erst 1995 wurde das Auschwitz-Album in Deutschland unter dem Titel „Gesichter der Juden in Auschwitz“ das erste Mal veröffentlicht.

Durch die bisherigen Veröffentlichungen wurden bislang viele namenlose Opfer identifiziert – jedoch noch nicht alle. Das ist auch der Grund für die erneute Veröffentlichung mit noch mehr Bildern als in den früheren Editionen. „Wir haben uns das Ziel gesetzt, die Menschen auf diesen Fotos eindeutig zu identifizieren“, schreiben die Herausgeber Israel Gutman und Bella Gutterman. Daher legen sie auch Bilder vor mit „mehreren Identifizierungsmöglichkeiten“ – in der Hoffnung, dass mithilfe der Leser „diesen Opfern ihre wirklichen Namen zurückgegeben“ werden können. Das Besondere an diesem Dokument sei, dass es „uns dem einzelnen Menschen näher bringt und uns eine Identifikation mit seinem Leid ermöglicht“.

Die jetzige Ausgabe druckt die restaurierten Originalseiten des Albums ab und enthält ein zusätzliches Bild, das über viele Jahre als verloren galt. Lili hatte kurz nach dem Krieg einige Fotos an Verwandte von Mithäftlingen verschenkt.

Es ist eine „außergewöhnliche, menschlich und historisch unendliche wertvolle Dokumentation eines einzigen Tages in der systematischen Vernichtung des jüdischen Volkes aus der Perspektive der Mörder“, schreibt Avner Shalev, der Vorsitzende von Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, in seinem Vorwort.

Zudem ordnet der Band, der in Zusammenarbeit von Yad Vashem und dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau entstanden ist, die Fotos in den historischen Kontext ein: die Geschichte des KZ Auschwitz, der ungarischen Juden und die bemerkenswerte Geschichte der Lili Jacob. Sie ist am 17. Dezember 1999 gestorben, im Alter von 73 Jahren.

„Das Auschwitz-Album. Die Geschichte eines Transports“. Hg. i. A. der Gedenkstätte Yad Vashem von Israel Gutman und Bella Gutterman. Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, 277 S., ca. 250, z. T. farb. Abb., 39 €