„Wir brauchen den Druck der Straße“

SOZIALPOLITIK Der SPD-Politiker Jo Leinen und der Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf diskutieren über das unterschiedliche Niveau der Sozialsysteme in Europa, die Möglichkeiten einer EU-Sozialpolitik und die sozialpolitische Macht des Europäischen Gerichtshofs

■ Der 61-jährige Jurist ist seit 1999 Europaabgeordneter der SPD. Bekannt wurde er in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Aktivist der Anti-AKW-Bewegung und Sprecher des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz. Von 1985 bis 1994 war er unter Ministerpräsident Oskar Lafontaine saarländischer Umweltminister.

■ Im Europaparlament ist er Vorsitzender des Ausschusses für Konstitutionelle Fragen. Bei den Wahlen kandidiert er auf Listenplatz 16 der SPD.

MODERATION SABINE HERRE

taz: Eine der wichtigsten Forderungen der SPD im Europawahlkampf ist eine gemeinsame EU-Sozialpolitik. Herr Leinen, haben die fünf Jahre seit der Osterweiterung nicht gezeigt, wie groß gerade die sozialen Unterschiede in der Union geworden sind?

Jo Leinen: Natürlich gibt es Unterschiede, doch es gibt auch eine gemeinsame Grundlage: Alle 27 Nationen in der EU teilen dieselben Werte. Wir haben eine über zweitausendjährige gemeinsame Geschichte, und die Meinungen darüber, wie eine Gesellschaft funktionieren soll, sind nicht allzu weit voneinander entfernt. Außerdem: Die Unterschiede zwischen den Staaten werden kleiner. Das Lohngefälle von Polen und Tschechien zu uns war 1:15 vor 15 Jahren, 1:10 vor zehn Jahren und 1:5 vor fünf Jahren. Und wenn Sie heute in Warschau oder Prag eine Arbeit annehmen, haben sie fast schon Löhne wie bei uns – aber auch Preise wie bei uns.

Sind die Unterschiede in der Union wirklich so gering, Herr Scharpf? Im Unterschied zu Herrn Leinen halten Sie eine EU-Sozialpolitik für wünschenswert, aber unmöglich.

Fritz W. Scharpf: Ökonomisch gesehen haben die osteuropäischen Länder tatsächlich aufgeholt. Das ist normal, wenn Lohnkostenunterschiede genutzt werden können – auf Kosten der Länder mit höheren Lohnkosten. Und natürlich stimmt es, dass es in Europa gemeinsame Traditionen und Werte gibt. Aber die europäischen Staaten haben ihre Sozialpolitik national entwickelt und dabei ganz unterschiedliche Strukturen und Niveaus durchgesetzt. Wenn man etwa Großbritannien mit Schweden oder Dänemark vergleicht, zeigen sich so radikal unterschiedliche Vorstellungen von dem, was der Staat tun soll, dass eine gemeinsame europäische Sozialpolitik völlig ausgeschlossen ist.

Leinen: Aber durch die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Lage grundsätzlich verändert. Inzwischen wird auch in Großbritannien anerkannt, dass der Staat eingreifen muss. Natürlich haben wir unterschiedliche Ausprägungen des Sozialstaats in den 27 Ländern. Aber die Grundprinzipien sind überall gleich. Als die Idee der Währungsunion vor über 30 Jahren geboren wurde, da schien auch sie völlig unrealistisch zu sein. Italien hatte eine viel höhere Inflationsrate als Deutschland. Doch die Währungsunion gelang, weil der Druck groß genug war. Und diesen Druck im Kessel spüren wir nun auch bei den sozialen Sicherungssystemen.

Scharpf: Auf die Finanzkrise würde ich nicht hoffen. Der dramatische Anstieg der Schuldenlast in den nationalen Haushalten könnte die EU allenfalls veranlassen, die Verminderung von Soziallasten zu verlangen. Im Übrigen ist der Druck im Kessel zum großen Teil durch die Politik der EU selbst erzeugt worden. Die europäische Integration hat mit einer Arbeitsteilung begonnen: Europa ist zuständig für die wirtschaftliche Integration, die Mitgliedstaaten bleiben zuständig für die soziale Integration. Die wirtschaftliche Integration ist zuerst durch den Binnenmarkt und dann durch die Währungsunion vorangetrieben worden. Dies hat die nationalen Sozialsysteme immer mehr unter Druck gesetzt.

Aber könnte eine EU-Sozialpolitik nicht den Druck aus dem Kessel nehmen?

Scharpf: Entweder macht die EU jetzt einen ganz großen Sprung nach vorne – indem man die nationalen Sozialsysteme harmonisiert und durch ein europäisches System ersetzt. Das erscheint politisch ausgeschlossen. Oder man setzt Grenzen für die wirtschaftliche Integration. Durch die Finanzkrise haben wir ja erkannt, wie schnell wirtschaftliche Liberalisierung und Deregulierung in die Katastrophe führen können. Diese Grenzen zu setzen ist wichtiger als dem utopischen Ziel einer gemeinsamen Sozialpolitik für 27 Staaten nachzulaufen.

Die Forderung von Herrn Scharpf ist: Weil die EU die Sozialpolitik vernachlässigt hat, muss man jetzt die Nationalstaaten stärken.

Leinen: Richtig ist, dass die Römischen Verträge vor über 50 Jahren die Idee des Binnenmarktes im Auge hatten. Wer allerdings damals geglaubt hatte, man könnte die Wirtschaft integrieren und die Sozialpolitik national belassen, der saß einem großen Irrtum auf. Bereits in den Sechzigerjahren ist die Europäische Gemeinschaft in der Sozialpolitik gesetzgeberisch tätig geworden, um die Freizügigkeit der Arbeitnehmer abzusichern.

Was genau hat die EU denn geregelt?

„Die Vorstellungen von dem, was der Staat tun soll, sind so radikal unterschiedlich, dass eine gemeinsame europäische Sozialpolitik völlig ausgeschlossen ist“

FRITZ W. SCHARPF

Leinen: Inzwischen gibt es zahlreiche europäische Gesetze zum Arbeitsschutz. Arbeitnehmer können ihre Pensionsansprüche mitnehmen, wenn sie ihr Gastland wieder verlassen. Eingeführt wird die EU-Gesundheitskarte, mit der man in dem Land, in dem man studiert oder arbeitet, zum Arzt gehen kann, und es wird zu Hause bezahlt. Wer jetzt den Rückwärtsgang einlegen und die Grenzen wieder hochziehen will, wird scheitern. Weil es nicht geht und weil es auch nicht notwendig ist.

Scharpf: Die sozialrechtliche Gleichstellung der Wanderarbeiter ist ja noch keine gemeinsame europäische Sozialpolitik. Bei den Verhandlungen über die Römischen Verträge hat der französische Premierminister Guy Mollet in der Tat gefordert, dass man zuerst die sozialen Systeme harmonisieren soll, ehe man die Wirtschaft integriert. Man hat sich dann zwar auf eine gemeinsame Agrarpolitik verständigt, aber eine gemeinsame Sozialpolitik hat Bundeskanzler Adenauer den Franzosen ausgeredet, weil er meinte, die europäischen Sozialmodelle seien sich so ähnlich, dass man eine Harmonisierung nicht brauche. Das traf für die ursprünglichen sechs Mitgliedstaaten ja auch zu.

Herr Leinen, wie könnte eine gemeinsame EU-Sozialpolitik aussehen? Die SPD hat erst kürzlich mit den Gewerkschaften ein Positionspapier dazu vorgestellt.

Leinen: Wir wollen, dass die Europa-Verträge eine soziale Fortschrittsklausel enthalten. In einem solchen Sozialprotokoll muss der Grundsatz verankert werden, dass die sozialen Grundrechte Vorrang vor den wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Binnenmarkt haben. Das heißt, die Niederlassungsfreiheit darf nicht zur Aushebelung des Streikrechts oder der Tarifverträge missbraucht werden. Eine Vertragsänderung ist aber nicht die leichteste Übung, wie man am Lissabon-Vertrag sehen kann. Wir haben daher eine zweite Idee, die schneller umgesetzt werden kann: die Änderung der Entsenderichtlinie von 1996. Denn die ist offensichtlich falsch interpretiert worden. So hat der Europäische Gerichtshof den Minimalschutz in einen Maximalschutz umgekehrt …

Sie meinen in einen Maximalschutz des Arbeitgebers …

Ja. Das heißt, tarifvertraglich abgesicherte Zusatzleistungen und andere Vergünstigungen müssten nicht zugestanden werden. Das war überhaupt nicht so gedacht. Schon in den Neunzigerjahren mit Blick auf die Erweiterung durch die neuen Länder sollte der Grundsatz gelten: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.“ Daher sind die Urteile des EuGH nicht zu akzeptieren.

Könnte so die von Ihnen geforderte Begrenzung der wirtschaftlichen Integration aussehen, Herr Scharpf?

Scharpf: Es ist sehr zu begrüßen, dass die Sozialdemokraten und auch die Gewerkschaften endlich mit ihrer undifferenzierten Europabegeisterung aufhören und zur Kenntnis nehmen, wie stark die europäische Rechtssprechung das Liberalisierungsprojekt der EU in Bereichen vorangetrieben hat, in denen die Herrschaft des Marktes von der Politik nie gewollt worden war. Die soziale Fortschrittsklausel ist für mich aber nicht viel mehr als eine Defensivmaßnahme, die den Richtern am EuGH signalisieren soll: „Seid vorsichtig, wenn Ihr in die nationalen sozialen Sicherungssysteme interveniert.“ Das ist begrüßenswert. Aber das ist noch keine europäische Sozialpolitik und die Frage war ja, was stellen Sie sich als Gegenstand einer europäischen Sozialpolitik vor.

Leinen: In der SPD haben wir seit Jahren über die Frage nachgedacht: Wie kann mit Blick auf die Osterweiterung in der EU der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt garantiert werden? Wir wollen – entsprechend dem monetären Stabilitätspakt – jetzt einen sozialen Stabilitätspakt. Es muss eine EU-Vereinbarung durchgesetzt werden, dass jeder Mitgliedstaat entsprechend seiner Wirtschaftskraft einen Sockelbetrag für soziale Leistungen wie für Bildungsmaßnahmen bereitstellen muss.

■ Der 74-jährige Rechts- und Politikwissenschaftler war Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung.

■ Zu den Forschungsschwerpunkten von Scharpf zählten seine vergleichenden Untersuchungen zur politischen Ökonomie von Wohlfahrtsstaaten, zur politischen Ökonomie von Inflation und Arbeitslosigkeit in Westeuropa und zur Krisenpolitik sozialdemokratischer Länder in den 70er-Jahren. Er untersuchte den deutschen Föderalismus und widmete sich der europäischen Integration.

Einen solchen sozialen Stabilitätspakt haben Sie, Herr Scharpf, in Ihrem Buch „Regieren in Europa“ gefordert. Das war vor zehn Jahren. Doch erst jetzt wird diese Forderung von der Sozialdemokratie aufgegriffen.

Scharpf: Tatsächlich ist in den vergangenen zehn Jahren hier praktisch nichts passiert. Weil auch bei Ländern auf der gleichen ökonomischen Entwicklungsstufe die Sozialquote enorm unterschiedlich ist. In Schweden zum Beispiel liegt sie bei deutlich über 30 Prozent, in England kaum über 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Deswegen kommt man vermutlich auf diesem Weg nicht weiter. Stattdessen sollte man jetzt darüber nachdenken, bei welchen sozialen Themen sich die Europäer einig werden können – trotz aller unterschiedlichen Strukturen.

Könnte ein europaweiter Mindestlohn so ein Thema sein?

Scharpf: Ja, aber hier ist die Diskussion lange falsch geführt worden. Die Gewerkschaften strebten einen einheitlichen Mindestlohn für alle 27 Mitgliedstaaten an. Das war offensichtlich nicht konsensfähig. Dagegen wäre eine europäische Einigung auf relative Standards nicht von vornherein ausgeschlossen. Diese könnten einen einheitlichen Prozentsatz des Durchschnittslohns eines jeden einzelnen Landes als Mindestlohn festlegen. Das wäre ein ungeheurer Fortschritt.

Leinen: Sie haben recht. Wir werden nicht einen Sozialstaat im herkömmlichen Sinne organisieren können, weil die Sozialkassen nationale Kassen sind, die kann man gar nicht europäisieren. Die Rentenversicherung ist national organisiert, die Krankenversicherung oder die Arbeitslosenversicherung. Was wir auf europäischer Ebene leisten können, ist die Vereinbarung von Mindeststandards. Das hat das Europaparlament zum Beispiel bei den privaten Pensionsfonds gemacht. Hier gibt es europaweit einheitliche Vorgaben, in welche Risikoanlagen investiert werden darf.

Die EU-Bürger sind mit der Harmonisierung von Standards aber nicht immer einverstanden. Zum Beispiel bei der Dienstleistungsrichtlinie.

Leinen: Die wichtigste Entscheidung in dieser Legislaturperiode des Europaparlaments war tatsächlich die Dienstleistungsrichtlinie. Grundlage war der Vorschlag von EU-Kommissar Bolkestein mit einem neoliberalen Ansatz: Es sollte das Herkunftslandprinzip gelten, das heißt, eine polnische Firma hätte nach polnischen Regeln in Deutschland arbeiten dürfen. Dank einer europaweiten öffentlichen Mobilisierung durch den Europäischen Gewerkschaftsbund haben die Sozialdemokraten im Europäischen Parlament eine Mehrheit zustande gebracht, um das Herkunftslandprinzip durch das Ziellandprinzip zu ersetzen. Arbeit muss also nach den Regeln des Landes verrichtet werden, in dem diese Arbeit stattfindet. Das heißt, im europäischen Binnenmarkt muss die jeweilige nationale Sozialordnung respektiert werden. Das war ein strategischer Sieg gegen die neoliberale Ideologie des Laissez-faire und des ungezügelten Preiswettbewerbs.

■  Die Wähler: In den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind rund 375 Millionen Menschen zur Wahl des Europaparlaments aufgerufen. Allein in Deutschland gibt es 64,3 Millionen Wahlberechtigte, darunter 62,2 Millionen Deutsche und 2,1 Millionen in der Bundesrepublik lebende Ausländer aus anderen EU-Staaten.

■ Der Termin: In Großbritannien und den Niederlanden wird am Donnerstag, den 4. Juni gewählt, in Tschechien und Irland am Tag darauf. Italien und vier weitere Staaten wählen am Samstag; Deutschland und die übrigen 18 Länder am Sonntag, den 7. Juni. An diesem Tag werden auch erst die Ergebnisse aus allen anderen Staaten bekannt gegeben.

■ Die Mandate: In dem von 785 auf 736 Abgeordnete reduzierten neuen Europaparlament entfallen auf Deutschland weiterhin 99 Mandate, mehr als auf jedes andere EU-Land. Es folgen Frankreich, Großbritannien und Italien (je 72), Polen und Spanien (je 50), Rumänien (33), die Niederlande (25), Belgien, Griechenland, Portugal, Tschechien und Ungarn (je 22), Schweden (18), Bulgarien und Österreich (je 17), Dänemark, Finnland und die Slowakei (je 13), Litauen und Irland (je 12), Lettland (8), Slowenien (7), Estland, Luxemburg und Zypern (je 6) und schließlich Malta (5).

■ Die Kandidaten: Um 99 deutschen Sitze bewerben sich insgesamt 1.196 Kandidaten, darunter 352 Frauen. Auf dem Stimmzettel stehen jeweils 31 Parteien und Vereinigungen. AP, DPA, TAZ

Scharpf: Das Europaparlament hat das Herkunftslandprinzip zwar aus der Dienstleistungsrichtlinie gestrichen, doch der Europäische Gerichtshof ist bei seiner Rechtsprechung dem nicht gefolgt.

Leinen: Da haben Sie recht. Hier gibt es einen Rückschritt, eine negative Überraschung, weil durch Richterurteile der politische Wille konterkariert wird.

Herr Scharpf, kann die Politik die Richter stoppen?

Scharpf: Das Richterrecht ist vor politischen Korrekturen in der EU sicherer als in jedem Nationalstaat. Dort, wo die Richter sich auf die europäischen Verträge stützen, wäre eine Vertragsänderung nötig. Und auch die Interpretation des einfachen Europarechts, etwa der Entsenderichtlinie, kann nur korrigiert werden, wenn die Kommission eine Initiative vorlegt, und wenn dann eine absolute Mehrheit im Parlament und eine Zweidrittelmehrheit im Ministerrat dieser zustimmen. Diese Hürden sind zu hoch. Gegen Urteile des EuGH, die die Abgrenzung zwischen europäischen und nationalen Zuständigkeiten betreffen, sollte deshalb eine Berufung an den Europäischen Rat zugelassen werden.

Leinen: Ich würde den EuGH nicht in dieser Weise abqualifizieren. Wir als Politiker haben die Möglichkeit, die juristische Basis klarzustellen und zu verändern. In den Verträgen wie in den Gesetzen gibt es zu viele Lücken. Das müssen wir korrigieren, das wollen wir korrigieren. Das von uns vorgeschlagene Sozialprotokoll könnte bereits Teil des nächsten Europa-Vertrags werden. Das wird der Beitrittsvertrag mit Kroatien sein, und der steht 2010 an. Wir brauchen allerdings eine öffentliche Debatte, wir brauchen auch den Druck der Straße. Eine fortschrittliche Sozialpolitik braucht Rückenwind, um sich gegen den zu erwartenden Widerstand der Wirtschaft und der Konservativen durchzusetzen.