Archäologie des Lagers

Die Gedenkstätte Buchenwald zeigt im Internet Grabungsfunde von den Müllhalden des Konzentrationslagers: Beispiel einer „lebendigen“ Erinnerungskultur für die Zeit nach den Überlebenden des Holocaust?

VON FRITZ VON KLINGGRÄFF

Koffer, Prothesen, Brillen, Schuhsohlen: haufenweise als Mahnmale aufgetürmt. Wer je eine der KZ-Gedenkstätten von Buchenwald bis Auschwitz betrat, kennt die Monumente der Erinnerungskultur, die zwischen Friedhof, Memorial und Museum ihr heikles Gleichgewicht suchen. Mit seinem „Bild-Katalog“ von ausgewählten Fundstücken hat der Archäologe und Historiker Ronald Hirte erstmals einen Teil der Überreste vernichteten Lebens aus dem ehemaligen KZ Buchenwald als Fotoarchiv auf der Website www.buchenwald.de zugänglich gemacht.

Aus einem Gesamtbestand von rund achttausend archäologischen Funden von den Buchenwalder Müllhalden, die wahrscheinlich in den letzten Monaten des KZ angelegt wurden, ist eine kleine Sammlung einsehbar, in der ein jedes Beispiel Bruchstücke der Verfolgung dokumentiert (zu finden über die Links „Forschung“ und „Sammlung“). Unter Verzicht auf jede monumentalisierende und zugleich entindividualisierende Häufung geraten in der eng geknüpften Struktur des digitalen Fotoarchivs 250 Realien in den Blick, die ein radikal anderes Gedächtnis der KZ-Realität darstellen. Denn in den Müllhalden von Buchenwald tauchen konsequent jene Relikte auf, die sich der Verwertungsmaschinerie der Nazis entzogen. Nicht Brillen, nicht Prothesen, nicht Haare millionenfach, sondern Einzelheiten und Lebenswelten quer zum logistischen Furor der Nazis.

„Es wurden 5 Einträge mit Ihrer Anfrage nach ‚Brillen‘ gefunden“, antwortet die Suchmaschine: Zwei defekte Brillengestelle, zwei Brillenetuis, ein Brillenglas, abgelegt in der Rubrik „Existenzbedingungen/Persönliches Habe“. Im nationalsozialistischen Bann des totalen Recyclings blieben diese einzelnen Relikte, die sich als Abfall ihrer Weiterverwertung entzogen, lange auch dem Blick der Historiker verborgen. Sie fielen buchstäblich durchs kategoriale Raster und könnten doch gerade aus diesem Grund als flüchtige materielle Zeugen ein differenziertes Bild der Lagerwelt zeichnen.

Der Kosmos der Lager – so die unausgesprochene These dieses offenen Archivs der KZ-Welt – ist vielleicht erst in seinem Abfall zu lesen: Ein einzelner Tallit, eingeordnet unter „Selbstbehauptung/Religion“, ein Zettelhalter („Arbeitsfreie Zeit/Schreibzeug“), zwei Dominosteine (gefertigt aus einem Namensschild mit der Aufschrift „Riemens“ und „Mutterschl“), ein Tauchsieder mit Heizwendel aus Stacheldraht berichten von einer differenzierten Soziabilität inmitten des nazistischen Kosmos der Vernichtung. Als Fundstücke von den Müllhalden sind es Gegenstände, die den Nazis so wertlos schienen wie das Leben ihrer Eigentümer.

Nüchtern lesen sich die Fundberichte, wie etwa der zu der „Dose (15689)“: „Beschreibung: Aus dünnem Aluminium-Blech geformter runder Deckel einer Dose mit (ursprünglich) rechtwinklig umkragendem, gewindetragendem sowie geriffeltem Rand und oberseitig ausgeprägtem sechszeiligem Schriftzug ‚100 STK. LOFOT-PERLER TR..VITAMINPERLER N.sp.nr. 1250 OLE CHR. PEDERSEN ..FARM.. LABORATORIUM‘ (Letternhöhe 2–4,8 mm) unter einer Segelschiff-Darstellung. Kontext: Inhalt von Rot-Kreuz-Paketen; Umgang mit dem Häftlingshabe.“ Das Geheimnis des Einzelnen bleibt in diesen, so Hirte, „nach tradierten Kriterien“ erfolgten archäologischen Beschreibungen als offene Frage bewahrt.

Im digitalen Museum der „Fundstücke“ ist jedes dieser Objekte wie in eine offene Vitrine gestellt und dem Auge des Betrachters näher, als es je ein Museum zulassen könnte. In den Arbeiten des Fotografen Peter Hansen haben die vielfältigen Annäherungsweisen der Kunst an den Holocaust in den Achtziger- und Neunzigerjahren ihren Niederschlag gefunden, die Fotografien Naomi Salmons, die „Realienfelder“ Werner Reubers oder die Installationen Christian Boltanskis. Doch während etwa aus Boltanskis Arbeiten mit unterschiedlichsten Relikten menschlichen Lebens ein tiefes Misstrauen gegen den Sog projizierter Authentizität spricht, dienen Hansens kühle Objektfotos der Bestandsaufnahme.

Mit seinen Grabungen auf den Müllhalden des einstigen KZ Buchenwald und mit seiner Magisterarbeit bei Lutz Niethammer am Jenaer Historischen Institut setzte Ronald Hirte eine kontroverse wissenschaftliche Diskussion über den Wert zeitgenössischer archäologischer Lagerforschung in Gang. Was mit den Workcamps von Aktion Sühnezeichen Ende der Siebzigerjahre begann, wurde mit diesen Grabungen in Buchenwald zum wissenschaftlichen Programm erhoben: die Rettung der gegenständlichen Zeitzeugnisse aus den Schichten der Gedenkstätten.

Die Skepsis war groß – zu offen und zugleich zu intim schien diese Arbeit am Verlorenen. „Auch die Dauerausstellung über das KZ Buchenwald zeigt mit Grabungsfunden das Massenhafte, das ehedem Entsorgte“, kritisierte die Leiterin der Gedenkstätte Ravensbrück, Sigrid Jacobeit, noch im November 2002 und begegnete der forschenden Frage Hirtes – „Können sich in den Schichten der Müllhalden Perspektiven von Erinnerung und Aufklärung widerspiegeln?“ – mit deutlichem Vorbehalt.

Inzwischen hat die Rede vom baldigen „Verlust“ der letzten Zeitzeugen mit Macht im historischen Diskurs Raum gewonnen. Längst bereitet sich auch die Gedenkstätte Buchenwald auf den sechzigsten Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers im April vor – das letzte runde Jubiläum dieser Art, das noch in Anwesenheit der Zeugen stattfinden wird, so heißt es. Eine geisterhafte Diskussion über das Erinnern nach dem Tod der letzten Überlebenden hat eingesetzt, auf die Ronald Hirte, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft, mit der Veröffentlichung seiner Grabungsfunde reagiert. Frei von der „Fantasie der Suchenden“ vor Ort, in der sich noch jeder gut meinende Gedenkstättenbesucher zwischen dem imaginierten „Disneyland des Horrors“ (Volkhard Knigge, Gedenkstättenleiter Buchenwald) und dem gesamtdeutschen Erfahrungshorizont „diakonischer Ferienlager“ (Ruth Klüger) verstrickt, legen diese Realien auf ihre je ganz eigene Art Zeugnis ab vom Lagerleben. Und lassen zugleich Raum für Skepsis: Könnte die Vitamindose womöglich aus dem Besitz eines KZ-Aufsehers stammen?

Dokumente an der Grenze zur Ikone, präsentieren die Fundstücke auch ihren überdeterminierten Status als Sachzeugnisse und Reliquien, als Beweisstücke, Indizien und als Abfall. Überdeutlich zugleich ihre Funktion als Medien: Wie auf einem Palimpsest überschreibt sich in den Einkerbungen auf Schüsseln, Kämmen oder Zahnbürsten die Geschichte der Menschen durch die ihrer Verschleppung kreuz und quer durch Europa. Als Erinnerungsspuren hinter den Listenwelten der Nazis ist in den mühsamen Kratzspuren von Namen, Nummern und Orten eine Archäologie der Lagerwelten und Transporte angelegt, die im Netz schon ihren richtigen Ort gefunden zu haben scheint.

„Wir suchen auf diesem Weg nach weiteren Hinweisen“, sagt Ronald Hirte. Wer – beispielsweise – weiß etwas über den Zettelhalter mit der Inventarnummer 15284 und sein Bild eines „einander zugewandten, sich küssenden Pärchens in ländlicher, niederländischer Tracht“ zu berichten?

FRITZ VON KLINGGRÄFF, 45, berichtete bis 2003 für die taz aus Thüringen und ist heute Pressesprecher der Stadt Weimar