Das Ende der Ausnahmen

Indien will ein eigenes Frühwarnsystem. Geltendes Recht soll endlich umgesetzt werden

CHENNAI taz ■ Indien will sich vor einem erneuten Tsunami schützen. Besonderes Augenmerk richtet der Staat auf die Ostküste sowie die Andamanen und Nikobaren. Nach einem Expertentreffen in Delhi erklärte Wissenschaftsminister Kapil Sibal, die Regierung habe die Errichtung eines Früwarnzentrums im südindischen Hyderabad beschlossen. Indien will das Zentrum selbst errichten. Sibal sprach von 30 Millionen Euro Kosten und einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Ein Informationsaustausch mit anderen Ländern sei aber willkommen.

Damit beginnt auch die Debatte über die ökologischen Verfehlungen, die den natürlichen Schutz vor Fluten in den letzten Jahrzehnten untergraben haben. Indien hatte sich 1991 zwar mit einem Erlass über „Coastal Regulation Zones“ (CRZ) dem ökologischen Schutz der Küstenregionen und Archipele verschrieben. Das wurde seitdem jedoch immer wieder unterlaufen: Der Erlass, der Ansiedlungen bis zu 500 Metern von der Hochwasser-Linie verbietet, ließ jede Menge Ausnahmen zu. Das führte zum Missbrauch vor allem durch die Bauindustrie. Immer wieder wurden für so genannten Sonderwirtschaftszonen die CRZ-Regeln für touristische Bauvorhaben umgangen. Noch im November hatten einige Küstenstaaten von Delhi eine weitere Lockerung der Vorschriften verlangt.

Nach dem Tsunami sind es nun eben diese Bundesstaaten, die schärfere Regeln und eine Sicherheitszone selbst in bebauten Gebieten fordern. Das ist nachvollziehbar, betrachtet man die Küste von Tamil Nadu, wo Armut und Bevölkerungsdichte viele Fischer gezwungen haben, am Strand zu bauen. Sie waren der Flutwelle schutzlos ausgeliefert. Flutwasserzonen werden immer mehr von Bauern bewirtschaftet, und auf den Andamanen sind die Mangrovenwälder laut einer Informationen der Forstverwaltung im letzten Jahrzehnt von 789 auf 233 Quadratkilometer zurückgegangen.

Der Landwirtschaftsexperte M. S. Swaminathan, dessen Stiftung im Küstengebiet von Tamil Nadu arbeitet, erklärt, der wirksamste Schutz vor fahrlässiger Besiedelung sei die Stärkung des „Ökoschilds“ mit Hilfe der Dorfgemeinschaften. Sie sollen zum Beispiel künftig salzwasserresistente Bambussorten anpflanzen. Die Stiftung hilft bei der Errichtung von „Biodörfern“, deren Bauern freien Zugang zu solchen Setzlingen erhalten.

Auf einer Tagung in Chennai (Madras) wandten sich zahlreiche NGOs gegen Pläne der Regierung von Tamil Nadu, an der Küste einen Betonwall zu errichten. Erste Untersuchungen hätten ergeben, dass solch ein Wall die Welle nicht hätte abhalten können. Dagegen hätten Flutwasserzonen, Deltas und Gebiete mit intakter Küstenvegetation erheblich weniger unter der Gewalt des Tsunami gelitten. Statt Geld für eine Mauer auszugeben, solle man es besser in natürliche Schutzmaßnahmen investieren.

Ein Sonderfall sind die Inselarchipele der Andamanen und Nikobaren. Der CRZ-Erlass behandelt diese als Zone mit besonderem Schutzbedarf. Doch ausgerechnet hier gilt der Erlass noch nicht, er wird vor Gericht angefochten. Zwar genießen die Inseln Schutz vor Tourismus, nur sieben Inseln sind Reisenden zugänglich. Zugleich aber wird dort – trotz Verbots – massiv Küstensand abgebaut wird, weshalb, so NGO-Experte Pankaj Sekhsaria, die flachen Küstenstreifen stark erodieren. Am 26. Dezember war Car Nicobar eine der am stärksten betroffenen Inseln: Alle elf Küstendörfer wurden stark zerstört, 20.000 der 40.000 Einwohner wurden obdachlos.

BERNARD IMHASLY