Aus dem Spiegelkabinett

Grime ist der britische HipHop. Doch mit ihren billigen Sounds und den unsicheren Machtfantasien der MCs transportiert diese Musik ein Gefühl der Verzweiflung, das das US-Original lang verloren hat

VON SIMON REYNOLDS

Grime ist unser HipHop, die endgültige Ankunft von Britrap als eine Musik, die mehr ist als die blasse Spiegelung des amerikanischen Originals. Stattdessen ist es eine gebrochene Reflexion wie aus einem Spiegelkabinett. Für amerikanische Ohren, die mit dem real thing aufgewachsen sind, hört sich Grime auf eine verstörende Weise falsch an – das Herausplatzen der MCs hat keinen Flow, die asymmetrischen Zahnlückengrooves scheinen halb fertig und defekt. Etwas dieser eigenartigen Schieflage von Grime hat der Titel der Compilation „Run The Road“ (679 Records/ Import) eingefangen: „Road“ ist Grime-Sprech für „Street“. In „Destruction V.I.P.“, einem der Killertracks auf der Platte, verkündet Kano: „From lamp post to lamp post / We run the road“.

Die Absicht ist klar. Es geht um die gangstermäßige Drohung und die Versicherung, sein Gebiet im Griff zu haben. Aber selbst für englische Ohren klingt die malerische Phrasierung dieser Prahlerei ein wenig schwachbrüstig. Amerikanische Rapfans dürften sich wegschmeißen vor Lachen, sollten sie das Stück jemals hören. Kein Wunder, dass sich die Hörerschaft von Grime außerhalb von England fast vollständig aus weißen, anglophilen Hipstern zusammensetzt.

Doch auch wenn Grime im amerikanischen HipHop-Mutterland nicht die Spur einer Chance hat – es kann sich mit dem Wissen trösten, dass es gegenwärtig im Vergleich mit dem real thing die Nase vorn hat. Neben den Hochglanzproduktionen der Amerikaner hören die Grime-Platten sich billig und gemein an, trotzdem sind sie in ihrer Behandlung von Rhythmus und Sound um einiges futuristischer. Wichtiger noch: Grime transportiert ein Gefühl der Verzweiflung, das amerikanischer HipHop fast vollständig verloren hat. Individuelle Rapper mögen zwar noch der „Vom Burgerbrater zum Millionär“-Flugbahn folgen, als kollektive Unternehmung hat HipHop jedoch gewonnen. Es dominiert den Pop weltweit. Diese Musik verströmt ein Gefühl von aristokratischem Anspruch, was man auch in den fürstlichen Blicken blasierter Verachtung sehen kann, die den HipHop-Videoclips gegenwärtig die nötige Härte verleihen. Aufstrebende MCs in Amerika rappen über die Luxusgüter und den Lifestyle, den sie noch nicht haben. Er ist aber in Reichweite. Sie folgen einem ausgetretenen Pfad – HipHop handelt nicht mehr nur davon, Millionen von Platten zu verkaufen, es geht genauso um die Diversifizierung: den Weg ins Filmgeschäft, darum eine eigene Bekleidungsmarke herauszubringen, um die Kumpels aus der alten Nachbarschaft mitzuziehen, wenn man es einmal geschafft hat.

Grime ist dagegen immer noch ein Underdog. Dementsprechend viel unsicherer und bewegender sind die Fantasien von Triumph und Leben auf großem Fuß, die hier artikuliert werden. Es gibt eine eindeutige Grenze, wie viel Geld in dieser Undergroundszene gemacht werden kann. 500 Singles zu verkaufen ist ein gutes Ergebnis, ein paar tausend loszuschlagen gilt als sensationeller Erfolg. So lässt sich nicht übermäßig viel Geld machen. Parallel dazu hat niemand im Grime bisher einen Weg zum Crossover-Erfolg gefunden, nicht einmal Dizzee Rascal, der einzige Star, den diese Szene hervorgebracht hat. Tatsächlich ist es eher riskant, von den Piratensendern zu Top of the Pops überzuwechseln. Die So Solid Crew etwa hatte vor einigen Jahren mit „21 Seconds“ einen Nummer-eins-Hit. Ihr zweites Album floppte allerdings, und mittlerweile hat sich ihre street credibility (oder sollte man besser road sagen?) in Luft aufgelöst.

All das kann man in der Musik hören, in diesen verkniffenen, dürren Stimmen. Mit all ihrer Energie wollen sie noch die kleinste Gelegenheit beim Schopf packen, ihr Glück zu machen, auch wenn sich dies bald als Trugbild herausstellen wird. All die Jungs (und ein einsames Mädchen) auf „Run The Road“ fühlen sich selbst schon jetzt als Legenden. Das großartige Stück „Chosen One“ von Riko & Target bringt dieses Gefühl von Schicksal und Bestimmung auf den Punkt. Über ein verkümmert-majestätisches Streichersample aus einem Filmsoundtrack imaginiert sich Riko in die Rolle eines Fernsehstars, um schließlich allen, die sich mit der Unbill des Straßenlebens herumschlagen müssen, ob aufstrebender MC oder nicht, zu raten: „Stay calm / Don’t switch / Use composure, blood / Use your head to battle through, ca’ you are the chosen one.“

Amerikanische Rapper, die es geschafft haben, hören sich oft an wie Schulhoftyrannen, wenn sie ihr altes Lyrikprogramm abspulen: Feinde erniedrigen und Frauen behandeln wie benutzte Kondome. Den Grime MCs dagegen verzeiht man ihre endlosen Drohungen und Prahlereien, ihr Big-Pimpin’-Getue. Wenn Grime MCs auf echte und imaginäre Feinde einschlagen, bekämpfen sie in Wirklichkeit ihren eigenen Selbstzweifel. Mit jedem verbalen Schlag versuchen sie das Gespenst des Scheiterns und der Anonymität zu verscheuchen. Sicher, die Frauenfeindlichkeit und das verbale Pistolengefuchtel sind auch hier schwer zu ertragen. „Cock Back“, eine der größten Grime-Hymnen des vergangenen Jahres, basiert auf einem Riddim des Produzenten Terror Danjah: Er setzt sich aus dem Klicken und Malmen des Durchladens einer Handfeuerwaffe zusammen. Es ist ein Beat, der einem das Blut gefrieren lässt, während D Double E darüber Sätze spuckt wie: „Think you’re a big boy ’cos you go gym? / Bullets will cave your whole face in.“ Der einzige weibliche MC ist zwar zahlenmäßig im Verhältnis eins zu zwanzig unterlegen, macht aber auch keine Gefangenen. In „Unorthodox Daughter“ warnt No Lay: „soundboy I can have your guns for garters / turn this place into a lyrical gunslaughter.“

„Run The Road“ ist nicht nur die bisher beste Grime-Compilation, es ist auch die erste Zusammenstellung bei einem Majorlabel. Zwar hat ein Warner Sublabel 2002 mit „Crews Control“ schon eine veröffentlicht. Doch diese präsentierte vor allem Proto-Grime, ihre Two-Step- und UK-Garage-Beats hatten einen wesentlich verspielteren Vibe, dank mittlerweile vergessener Crews wie Heartless und Genius. Deren Humor sucht man auf „Run The Road“ vergeblich. Mit einer Ausnahme: Lady Sovereigns „Cha Ching“, in dem ein „white midget“ mit Quiekstimme ankündigt: „It’s Ms Sovereign, the titchy t’ing / Me nah have fifty rings / but I’ve got fifty things to say / In a cheeky kind of way / Okay?“ Auch Bruza mit seinem schleppenden Stil hört sich komisch an, wenn er in Zeilen wie „you’ll be left in ruins for your wrong-doings“ das Cockney in „Cock Back“ einfließen lässt. Aber wenn es um Inhalte geht, ist er „brutal and British“ und spult die übliche Liste erfinderisch-blutrünstiger Racheakte ab.

Das Lachen auf „Run The Road“ ist schadenfroh und rachsüchtig. Daher auch das gruselige digitale Schnattern, das Terror Danjah auf all seinen Produktionen benutzt (auf „Run The Road“ sind es „Cock Back“ von Terror Danjah Ft. Riko, Bruza, D Double E And Hyper sowie „One Wish“ von Shystie). Es hört sich an, als käme es von einem bösen Cyberkobold. Grime scheint gegenwärtig vergleichsweise wenig zum Scherzen aufgelegt. Ein tödlicher Ernst liegt in der Luft, möglicherweise von dem Umstand beeinflusst, dass mittlerweile wirklich etwas auf dem Spiel steht – die Majors haben angefangen sich umzuschauen und einen MC wie Kano unter Vertrag genommen. Es eröffnet sich die reale Chance, es zu schaffen.

Sollte Grime es jemals kollektiv schaffen und die Art von Dominanz erreichen, an der sich der amerikanische HipHop erfreut, wird man sich an die vergangenen drei Jahre als das goldene Zeitalter erinnern. Das Genre tauchte auf, dies ist die Old Skool. Man sollte sich nichts vormachen: Kano, D Double E, Riko, Sovereign, Dizzee und Wiley entsprechen Rakim, Chuck D, Ice Cube, Nas und Jay-Z. Um die Worte von Notorious B.I.G. zu variieren, eines Rappers aus dem amerikanischen Pantheon: If you (still) don’t know, get to know.

Übersetzung: Tobias Rapp

Der Artikel erschien in einer gekürzten Form im britischen „Observer“. Simon Reynolds ist Publizist und lebt in New York. Im Frühling wird sein Buch „Rip It Up And Start Again“ erscheinen