Alle Hunde werden Bären

Wer möchte schon erwachsen sein: Marc Fosters Film „Wenn Träume fliegen lernen“ widmet sich James M. Barrie, dem Autor von „Peter Pan“. Johnny Depp lässt der Macht der Fantasie freien Lauf

VON PHILIPP BÜHLER

Sein letztes Stück war ein Flop. Kein rauschender Beifall wie sonst, die Edwardianer auf den besseren Plätzen sind so enttäuscht wie der Autor. Seine Frau hat die schlechte Kritik vorsorglich aus der Zeitung geschnitten. Und so sitzt James Matthew Barrie (Johnny Depp) frustriert auf einer Parkbank in den Londoner Kensington Gardens, packt die Zeitung aus und starrt durch ein merkwürdiges Loch. Doch dahinter gibt es etwas zu sehen! Auf einer Decke im Gras hat sich eine kleine Familie ausgebreitet, drei naseweise Jungs in properen Cricketanzügen mit ihrer liebreizenden Mutter. Wie sie da toben und spielen, erfreut den Autor ungeheuer. So sollte es immer sein. Er schließt Bekanntschaft mit ihnen, mit der todkranken Witwe Sylvia (Kate Winslet) und ihren Söhnen George, Michael und Peter. Er tanzt ihnen mit seinem Hund etwas vor und erklärt, der Hund sei in Wirklichkeit ein Bär. Das glauben ihm die Kinder nicht. Ein Hund ist ein Hund ist kein Bär – wie kleine Jungs nun mal sind, die unbedingt erwachsen werden wollen. James M. Barrie will nicht erwachsen werden. Er will Feen, Indianer und Piraten zum Leben erwecken und Hunde zu Bären oder Kindermädchen machen. Die Freundschaft mit der Llewelyn-Davies-Familie, vor allem zu dem Jüngsten Peter, inspiriert ihn zu seinem weltweit erfolgreichen Stück „Peter Pan, or The Boy Who Wouldn’t Grow Up“. Uraufgeführt vor 100 Jahren, im Londoner Duke of Yorks Theatre. Dies ist die Geschichte dazu, und sie ist so wahr wie fantastisch. Wobei Barrie Letzterem stets den Vorzug gab.

Das Stück über Peter Pan, das Barrie (1860–1937) später noch in Prosa fasste, ist seitdem unzählige Male verfilmt worden. Doch erst vor einem Jahr wagte es P.J. Hogan in seiner Version, die morbide Seite des Märchenmythos zum Ausdruck zu bringen. Hinter dem Traum von der ewigen Jugend steckt gehörige Todessehnsucht. Oder wie Barries Pan es sagt: „Sterben muss ein schrecklich großes Abenteuer sein!“ Barrie war keiner, der die hässlichen Seiten des Lebens einfach mit der Schere ausschnitt. Käpt’n Hook droht mit seinem eisernen Haken, im Magen des mörderischen Krokodils tickt die Uhr. Der Autor dieser Fantasien war ein Mann, der nie über den frühen Tod seines Bruders hinwegkam und seitdem aufgehört hatte, zu wachsen. Nur ein Meter fünfzig war der Schotte groß, eine wispernde, jungenhafte Stimme soll er gehabt haben. Womit wir Regisseur Marc Forster und seiner Identifikation von Autor und Dichtung natürlich längst aufgesessen sind. Andererseits: Wie James M. Barrie sieht Johnny Depp wirklich nicht aus.

Aber was macht das schon bei einer solch blühenden Fantasie. Bevor er mittels Flaschenzügen und Seilen die Feen fliegen lässt und damit ein Publikum jeden Alters zu Jubelstürmen hinreißt, spielt Barrie für die Llewelyn-Davies-Kinder all die Indianer und Piraten höchstselbst. Wer sonst sollte diese Rolle spielen – endlich mal stimmt der Ausdruck – als Johnny Depp? Spätestens seit „Fluch der Karibik“, wo er ebenfalls als Pirat auftrat, ist für ihn jede Schminke eine Kriegsbemalung. Es dürfte auch keinen anderen geben als diesen fabelhaften Exzentriker, der sich im Lauf seiner Karriere so vom Eros freigemacht hat wie Depp (wodurch er logischerweise noch erotischer wirkt). Als Barrie ist diese Platonik unverzichtbar. Denn es gibt zwar Gerede über den jungen Mann im Haus der Witwe, der noch dazu den ganzen Tag mit Kindern spielt. Aber wer hinsieht, wird auf keine falschen Gedanken kommen. Da unterscheidet sich Barrie gewaltig von Lewis Carroll: Der Autor von „Alice im Wunderland“ ließ sich bekanntlich von kleinen Mädchen inspirieren, weil sie dem stotternden Lehrer näher waren als große Frauen. Der Frau mit der Schere soll Barrie zum Abschied gesagt haben: „Boys can’t love.“

Kate Winslet ihrerseits gibt die Viktorianerin diesmal zur Abwechslung mit moribunder Entrücktheit. Sylvia will nichts von James, sie braucht nur einen Vater für ihre Söhne, denn sie wird sterben. Barrie wird es den Kindern leichter machen mit seinem Stück, das vom Tod handelt und davon, wie man ihm begegnet. In Peter Pans Nimmerland jedenfalls gelangt man durch eine Tür, egal welche, denn Fantasie und Bildregie sind hier keine Grenzen gesetzt. Wenn das Kitsch ist, ist dieser Kitsch zum Heulen schön. Vielleicht inszeniert Forster sogar ein wenig zu elegant. Und der ewig junge Dustin Hoffman als Theaterdirektor passt sicher viel zu gut ins Bild. Aber in jedem Fall ist Forster gelungen, was Tim Burton mit seinem „Big Fish“ so schmählich schuldig blieb, genauso wie alle bisherigen Pan-Filme: der Macht der Fantasie freien Lauf zu lassen. Er macht das, indem er bei all dem Hokuspokus ganz auf Bühnenwirkung setzt und auch mal die Kulissen zusammenkrachen lässt. Den Kindern, bezaubernde kleine Engländer mit Abstehohren und sauberen Scheiteln, drückt Spielkind Barrie den Malblock in die Hand. Die kindliche Fantasie soll kein Stück und kein Film ersetzen. Insofern spielt es auch keine Rolle, dass der wirkliche Vater damals noch quicklebendig war und Sylvia zum Sterben noch sechs Jahre blieben.