bücher aus den charts
: Der neue Dahl

Wahrscheinlich wälzt er wochenlang medizinische Fachliteratur, um herauszufinden, wie er seine virtuellen Opfer auf besonders qualvolle Weise ums Leben bringen könnte. In „Böses Blut“, dem zweiten Roman des schwedischen Krimiautors Arne Dahl, der unter seinem bürgerlichen Namen Jan Arnald ein friedlicher Literaturkritiker und mäßig erfolgreicher Autor war, bevor er ins Genrefach wechselte, gibt es einen Serienmörder, der seinen Opfern mit einer Zange die Stimmbänder einklemmt, damit sie während der folgenden stundenlangen Folter keinen Laut von sich geben. Die Todesart in Dahls viertem und hierzulande neuestem Roman „Tiefer Schmerz“ ist schneller, doch steigert sie noch das Prinzip der maximalen Qual: Den Opfern wird mit einer dünnen Nadel ins Schmerzzentrum des Hirns gestochen, was den größten Schmerz auslöst, den ein Mensch empfinden kann, und durch den Schock zum Tod führt. Damit nicht genug, wird der erste Tote den Vielfraßen im Stockholmer Skansen zum Verzehr vorgeworfen, sodass nur noch Fetzen davon übrig bleiben.

Doch was wie die gruseligste Splatterliteratur klingt, sind tatsächlich die wohl intelligentesten und originellsten Krimis derzeit. Die ausgefallenen Todesarten sind nur ein Beleg für die Belesenheit des Autors, die sich auch auf anderen Gebieten niederschlägt. „Tiefer Schmerz“ spannt einen thematisch und geografisch weiten Bogen von Nord- nach Ost- nach Südeuropa, vom Zweiten Weltkrieg bis ins neue Jahrtausend, erzählt von Frauenhandel, Mafia, Menschenversuchen und der Verstrickung von Skandinaviern in die Verbrechen der Nazis. Gar nicht einfach, das alles zusammenbringen, ohne in billige Kolportage abzugleiten. Dahl kann es. Die Fleischfetzen der Skansen-Leiche werden bald identifiziert als die Überreste eines Zuhälters aus dem Dunstkreis der italienischen Mafia. In der Nacht seiner Ermordung sind zudem acht Prostituierte aus einem Stockholmer Flüchtlingsheim verschwunden. Als die Ermittler von Zuhältermorden in anderen europäischen Ländern erfahren, die nach demselben Prinzip verübt wurden, deutet alles auf einen Rachefeldzug hin. Doch dann wird ein hoch angesehener schwedischer Wissenschaftler, Nobelpreiskandidat und jüdischer KZ-Überlebender, mit einer Nadel in der Schläfe ermordet aufgefunden. Wie passt er ins Feindbild der kämpferischen „Ninja-Feministinnen“, die möglicherweise die Zuhälter auf dem Gewissen haben? Und woher stammt diese Tötungsmethode?

Wie Stück für Stück die Puzzleteilchen an ihren Platz fallen und zum Schluss eine überraschende und – wie oft bei Dahl – durchaus sympathische Täterfigur präsentiert wird, hat etwas sehr Klassisches. In einem Arne Dahl steckt immer auch ein solider Detektivroman. Bisher jedenfalls hat er seinen Lesern, soweit man das nach vier Bänden beurteilen kann, noch nie die Lösung für einen Fall verweigert. Bei seinen großen Vorbildern Maj Sjöwall und Per Wahlöö konnte das schon mal vorkommen. Doch die waren schließlich auch die großen Überwinder des Genres. Dahl/Arnald hingegen ist ein großer Kompilator, der nicht nur seinen Thomas Harris, sondern auch Agatha Christie gelesen hat und seine Sjöwall/Wahlöös vermutlich als Jugendlicher im Schlaf hersagen konnte. Von manchen wird er schon als wahrer Nachfolger des legendären Autorenduos ausgerufen. Ob man ihm damit gerecht wird, ist eine Frage, die sicherlich bald zum Gegenstand unzähliger Magisterarbeiten avanciert. Sjöwall/Wahlöö wurden damals immerhin mit Balzac verglichen. Auf die Idee käme man bei Arne Dahl wohl nicht. Doch hat es seit Sjöwall/Wahlöö bestimmt keinen besseren Grund gegeben, Schwedisch zu lernen. In Schweden nämlich erscheint im Sommer bereits Band acht. In deutscher Übersetzung wird es den, wenn der Verlag beim bisherigen Rhythmus bleibt, erst in vier Jahren geben. Das reicht locker fürs Grundstudium in Skandinavistik. KATHARINA GRANZIN

Arne Dahl: „Tiefer Schmerz“. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Piper, München 2005, 411 Seiten, 19,90 Euro