Den Rauch vor dem Fenster vergessen

Um den grausamen Alltag in Auschwitz zu verdrängen, flüchtete Anita Lasker-Wallfisch sich in die Musik. Die Überlebende des Holocaust ist überzeugt, dass das Cello sie gerettet hat. Heute besucht die 79-Jährige Schulen und erzählt dort ihre Geschichte

VON CLAUDIA LEHNEN

Vieles ist ihr abhanden gekommen auf dem Weg durch die Jahre. Sie ist eine andere geworden. Der Holocaust hat ihr Leben in zwei Teile geschnitten, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen. Anita Lasker-Wallfisch hat als Cellistin im so genannten „Mädchenorchester“ in Auschwitz den Massenmord an Juden im Dritten Reich überlebt. Sich zu erinnern bedeutet für die 79-Jährige, zurück zu springen in ein anderes Leben.

Für die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Niederzier nördlich von Düren wagt die alte Frau diesen Sprung. Sie setzt die Brille ab und versetzt sich zurück in ihre Jugend nach Breslau. Musik und das Erlernen fremder Sprachen seien die Ingredienzien einer kurzen unbeschwerten Kindheit gewesen, erzählt sie. Doch schon mit acht Jahren habe sie zum ersten Mal gespürt, dass man sie nicht dazu gehören lassen wollte. „Gib dem Juden nicht den Schwamm!“ rief ein Kind, als Anita in der Schule die Tafel wischen wollte.

Ernst genommen hat den Antisemitismus und den aufkommenden Nationalsozialismus laut Lasker-Wallfisch lange niemand in ihrer Familie – trotz der Anfeindungen. Ihr Vater sei überzeugt gewesen, dass dieser „Unsinn“ bald aufhören müsse, erinnert sie sich. Wie auch die Briefe in ihrem Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ belegen, führte die fünfköpfige Familie noch lange nach der Reichspogromnacht 1938 ein normales Leben. An ihre älteste Schwester Marianne, die einen Kindertransport nach England begleitet hatte, schreibt Anita als Jugendliche unbeschwerte Briefe.

Die Fähigkeit, trotz des Grauens ein Gefühl von Normalität zu verspüren, bewahrte Lasker-Wallfisch sich lange. Geholfen hat ihr dabei die Musik: Im Gefängnis hätten sie und ihre Schwester Renate oft Kanons gesungen; im Konzentrationslager Auschwitz, sagt die 79-Jährige, habe sie beim Musizieren manchmal für einen Moment „den Rauch vor dem Fenster vergessen“. Sie ist überzeugt davon, dass sie ihr Überleben ihrem Cello zu verdanken hat.

Heute ist Lasker-Wallfisch eine ernste Frau. Nichts hat sie von ihrer einstigen Unbeschwertheit aus ihrer Heimat in London mit nach Niederzier gebracht. Fünfzig Jahre habe es gedauert, bis sie aufgehört habe, die Deutschen zu hassen, sagt sie. „Da dachte ich, dass ich das Wort ‚hassen‘ aus meinem Vokabular streichen und lieber von meinem Schicksal erzählen sollte.“ Vielleicht sind der Auschwitz-Überlebenden im Laufe der Jahre auch die starken Emotionen abhanden gekommen. Angst, Hass, Wut, Verzweiflung – die Rezeptoren für diese Gefühle scheinen in den Monaten im Konzentrationslager taub geworden zu sein. Sie wirkt müde, manchmal fast desinteressiert.

Zuweilen scheint es aber auch, als sei sie die immer gleichen Fragen leid. Warum sie sich die Nummer, die ihr in Auschwitz in den Arm tätowiert wurde, nicht entfernen habe lassen, fragt eine Schülerin. Wann es die Nazis geschafft hätten, dass sie sich nicht mehr als Deutsche fühlte, will ein Lehrer wissen. Anita Lasker-Wallfisch fühlt sich an einigen Stellen des Gesprächs ganz offenbar unverstanden. Dennoch versichert sie einem fragenden Mädchen, das einen roten Kopf bekommen hat, sie müsse sich nicht schämen. Vielleicht, weil es ihr nicht um sie selbst geht. Vielleicht weil es egal ist, ob ihre Emotionen verstanden werden oder nicht. Weil viel wichtiger als die Geschichte die „Moral daraus“ sei. „Sie müssen darum kämpfen, dass so etwas nicht noch einmal passiert!“

Nur wenn ihre Geschichte dazu beitrage, dass junge Menschen etwas lernten, hätte sie ihren Sinn erfüllt. Schuldgefühle wegen des Holocausts zu haben, davon rät Lasker-Wallfisch den Schülerinnen und Schülern ab. „Wenn man sich schuldig fühlt, ist man wütend, dass einem etwas vorgeworfen wird. Schuld ist ein negatives Gefühl. Besser ist, Sie fühlen Verantwortung.“

Lange dauert die angekündigte Diskussion im Anschluss an die Lesung nicht. Die guten Fragen gehen aus, die übrig gebliebenen sind oftmals peinlich. Und Anita Lasker-Wallfisch ist keine Frau, die Dinge unnötig in die Länge zieht. Sie hat ihre Handflächen auf das Rednerpult fallen lassen, nur noch die Zehenspitzen berühren den Boden. Bevor sie aufsteht und den Saal verlässt, fragt sie: „Fertig?“