Versende deine Jugend

POLITMAGAZIN Eine Gruppe junger WDR-Journalisten macht ab Sonntag wieder vor, wie jugendkompatibles öffentlich-rechtliches Fernsehen aussehen könnte. Doch weil der Sender „Echtzeit“ vor allem als Talentschmiede sieht, versagt er dem Format Entwicklungsmöglichkeiten und einen festen Sendeplatz

Nur drei Sendungen im Jahr lassen dem Publikum keine Chance, sich an „Echtzeit“ zu gewöhnen. Der ARD fehlt auch hier mal wieder der lange Atem. Und so wird die Sendung, die junge Leute ernst nehmen soll, von ihrem Sender stiefmütterlich behandelt

AUS KÖLN DANIEL BOUHS

Leider ist es bloß Fake. Wenn am Sonntag um 23.45 Uhr eine Handvoll junger Redakteure im Ersten ihre Beiträge bespricht, werden sie sich für die Kameras wieder in Raum 546 des Kölner WDR-Filmhauses quetschen. Ein Büro, in dem sonst Rechercheure anderer Sendungen arbeiten.

Und genau das ist das Problem. Denn die Macher des jungen Magazins „Echtzeit“ sollen zwar vorspielen, eine feste Truppe zu sein, die sich um die Probleme junger Menschen kümmert, doch letztlich sind sie Einzelkämpfer, deren Sendung wie ein Lückenfüller behandelt wird. Dabei ist das Magazin nicht weniger als der Versuch, endlich wieder junges Publikum für das alternde Medium Fernsehen zu begeistern. Die WDR-Zuschauer sind im Durchschnitt 61 Jahre alt.

Um das zu ändern, geht „Echtzeit“ alle paar Monate den mutigen Weg, in einer halben Stunde drei Probleme zu skizzieren, ohne Politikern und Forschern gleichzeitig ein Forum zu bieten. Der Chef der Sendung, Mathias Werth, beschreibt das Prinzip so: „Wir nehmen junge Leute ernst und setzen ihnen nicht nach 30 Sekunden einen Experten gegenüber, der ihnen sagt, was sie alles falsch machen.“

Die Spezialität von „Echtzeit“ sind kleine Porträts, in denen die Reporter dicht an ihren Protagonisten bleiben. Beide Seiten sind selten über 30, und bei der Themenauswahl sind sie in Köln auch noch viel feinfühliger als die vom Konzept her ähnlichen „ZDF.reporter“. Und sie drängeln sich nicht so sehr in den Vordergrund wie ihre Mitstreiter von „Panorama – die Reporter“ (NDR). Nur die nervigen Wackelbilder können die WDR-Kameraleute leider genauso gut.

Bei „Echtzeit“ wird heute Markus zu sehen sein, ein Analphabet. Markus hat einen Hauptschulabschluss, weil seine Lehrer mit ihm Prüfungen durchsprachen, statt ihn vor Aufgabenblätter zu setzen. Seinen Traum, Koch zu werden, konnte er sich bislang nicht erfüllen: Chefs schmissen ihn raus, als sie merkten, dass Markus keine Rezepte lesen kann. Oder er kündigte selbst – aus Scham.

Bevor „Echtzeit“ im Sommer 2007 erstmals auf Sendung ging, passten die Macher Studenten ab und fragten, was die öffentlich-rechtlichen Sender eigentlich falsch machen mit der Jugend. Eines der Ergebnisse war, dass zu selten Menschen zu sehen sind, die Probleme anpacken, anstatt zu resignieren.

Markus ist so jemand. „Echtzeit“ bietet ihm deshalb nicht nur den Raum, sich über seine Mutter auszukotzen, die nie an ihn glaubte. Das Magazin begleitet Markus auch in einen Kurs, in dem er sich Woche für Woche aufs Neue quält, um zumindest das Nötigste auf die Reihe zu bekommen. Positives zeigen heißt in diesem Fall auch: Man sieht Markus, wie er sich am Computer das Wort „Lebenslauf“ abringt. Ein Neuanfang, durchaus mit Signalwirkung.

Im Film wird Markus schließlich nicht von einem Wissenschaftler unterbrochen, der ihm sagt, wie schlimm das mit dem Analphabetismus sei. Ihm fällt auch kein Politiker ins Wort, der mehr Geld für Alphabetisierungskurse fordert. Autorin Charlotte Gnändiger, die sonst für das ARD-„Mittagsmagazin“ arbeitet, weiß aber auch: „Hätte ich für eine andere Sendung gedreht, wäre ich an Experten nicht vorbei gekommen. Das wird so erwartet.“ Irgendein Teil der Geschichte hätte es also nicht in die Sendung geschafft. Möglich, dass so ein falsches, wenn nicht zumindest ein schiefes Bild entstanden wäre.

„Wir haben den Experten und Bücherwänden die Zeit weggenommen und sie den Protagonisten gegeben“, sagt Eva Müller, die Charlottes Beitrag betreut. Sie weiß aber auch: „Diese Form funktioniert nur, wenn es um relevante Themen geht, die über die aktuelle Berichterstattung hinausgehen.“ Hätte Markus also einen Platz bei einem klassischen Politmagazin wie „Monitor“ bekommen, hätte es eines Aufhängers bedurft: einer Forderung oder Enthüllung. Markus wäre dann nur ein Beispiel unter vielen gewesen.

Eine Sendung wie „Echtzeit“ ist auch deshalb so erfrischend, weil dort Platz für Probleme bleibt, die Menschen ständig bewegen. „Echtzeit“ muss nicht auf die politische Agenda Rücksicht nehmen. So wird in einer der nächsten Sendungen auch die 26-jährige Sonja auftauchen, die ihre Mutter selbst pflegt. Um sie nicht ins Heim abschieben zu müssen, verzichtet Sonja auf ein Privatleben. Ein Problem, das viele Menschen teilen, das aber längst aus dem Blickfeld der Berliner Politik verschwunden ist.

Ein Ersatz für die klassischen Politmagazine will „Echtzeit“ nicht sein. „Wir können keine Vollständigkeit bieten“, sagt Werth, der einst selbst bei „Monitor“ arbeitete. Er spricht von dem „Luxus, Themen abseits des Mainstreams aufgreifen und wählen zu können“. Dafür kommen zu Beginn jeder Staffel immer wieder aufs Neue ein gutes Dutzend Redakteure und Autoren zusammen, die sonst anderes tun. Sie glauben an das Format und nehmen deswegen die Zusatzbelastung gern in Kauf.

Ihre Art, die Dinge aufzuarbeiten, stößt jedoch schon mal auf Verwunderung, manchmal sogar auf Frust. Werth erinnert sich etwa an einen porträtierten Soldaten, der sich auf seinen Einsatz in Afghanistan vorbereitete. „Als wir der Bundeswehr sagten, dass wir nur mit ihm, aber nicht mit seinen Vorgesetzten sprechen wollten, haben sie das erst nicht glauben wollen.“ Und als „Echtzeit“ zehn Freiburger zeigte, die sich selbst unterrichteten, beschwerte sich nach der Sendung das Schulamt – weil es selbst nicht zu Wort kam.

Beschwerden hätten die Redaktion bisher aber nur selten erreicht. Und das dürfte sich auch nicht ändern, denn während die Redakteure nichts dagegen hätten, „uns und den Zuschauern mehr Echtzeiten zu gönnen“, hat ihre Senderspitze diesen Plan längst auf Eis gelegt. WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn sagt eindeutig: „Ich denke nicht an einen regulären Sendeplatz für Echtzeit – weder im Ersten noch im Dritten.“ Eine feste „Echtzeit“ sei gar „kontraproduktiv“, erklärt er. „Dann wäre die Gefahr groß, dass das Format sehr starr wird, weil die Macher Routine brauchten.“ In der Redaktion teilen sie diese Ansicht natürlich nicht.

„Echtzeit“ war vor zwei Jahren Teil einer breit angelegten Aktion des WDR, neue Sendungen für junge Menschen zu testen. Der Erfolg blieb aus. Als „Echtzeit“ vor gut einem Jahr schon mal drei Folgen im Ersten zeigen durfte, waren die Zuschauer so alt wie sonst auch zu dieser Zeit, wenn in „Druckfrisch“ Bücher vorstellt werden: im Schnitt 57 Jahre. Schönenborn weiß, wie wichtig es ist, was vor und nach Sendungen läuft, die Junge anlocken sollen: „In einer alten Programmumgebung ist eine junge Insel sehr einsam.“

Dass „Echtzeit“ trotzdem auch künftig sporadisch laufen soll, wie es auch für das nächste Jahr schon beschlossen ist, begründet Schönenborn so: „Dort sollen sich junge Mitarbeiter ausprobieren und beweisen können, damit sie von anderen Sendungen wahrgenommen werden.“

Ganz fair ist das alles natürlich nicht. Nur drei Sendungen im Jahr lassen dem Publikum keine Chance, sich an „Echtzeit“ zu gewöhnen. Der ARD fehlt auch hier mal wieder der lange Atem. Und so wird die Sendung, die junge Leute ernst nehmen soll, von ihrem Sender selbst stiefmütterlich behandelt. Heraus kommt ein Format, das erfolgreich sein könnte, aber zwangsläufig hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt, weil der Sender es so will.