Zu nah dran an Westernhagen

Im kulturellen Küchenkabinett des Kanzlers ist Marius Müller-Westernhagen (56) der Mann fürs Rebellische. Heute erscheint sein neues Album: „Nahaufnahme“ gibt sich als Soundtrack zu Hartz IV und wurde Experten vorab im Ruhrpott präsentiert – ein groteskes Erlebnis

AUS ESSEN MARTIN WEBER

Ein Tieropfer wäre jetzt nicht schlecht. Ja, genau: Ein schneeweißes Kaninchen mit ängstlichen Augen, gemeuchelt auf offener Bühne, die, zu unheilvoll grollender Musik mit kunstvollem Getrommel, abwechselnd in rotes und blaues Licht getaucht wird – das sähe womöglich brutal aus. Wäre aber der feierlichen, beinahe sakralen Stimmung durchaus angemessen.

Was macht die schöne dunkelhäutige Frau da? Man weiß es noch nicht ganz genau, klar ist für den Moment nur: Extrem würdevoll und dementsprechend langsam schreitet sie auf die Bühne, geht einen Halbkreis und hernach in die Knie, packt beherzt das blaue Tuch, schlägt es beiseite und – nein, kein Käfig, kein Kaninchen. Stattdessen: ein einsamer CD-Player.

Der Retter der Branche

Im gleißenden Lichtkegel steht dieses Designer-Gerät und sieht so aus, als habe Marius dafür den Gegenwert eines Reihenhauses hingeblättert. Da tritt er auch schon hinzu, endlich, meine Damen und Herren, liebe Medienpartner und Werbetreibende: Marius Müller-Westernhagen, der Storchenzweibeiner höchstselbst, 56, Bundesverdienstkreuzträger, von Beruf Kommerzgigant, Retter der Branche, Freund der Maßanzüge – und ein schreckliches Missverständnis in allen Belangen, die auch nur ansatzweise mit dem zu tun haben, was Rock ’n’ Roll war, ist, sein muss und sein wird.

Und die Frau, die vor ihm die Bühne des Zollvereins Essen enterte, ist seine Gattin Romney. Zusammen sind die beiden die Reinkarnation des Satzes „Muss Ehe schön sein“, sie sind die Menschwerdung einer symbiotischen Lebensgemeinschaft, bedingen einander und haben sich gegenseitig verdient – in etwa so wie im Tierreich Giraffe und Madenhacker; kaum zwei Wochen seien sie in ihrer Ehe getrennt gewesen, bekannte Westernhagen schon 1999, einen weiten Weg sind sie gemeinsam gegangen.

Und ein weiter Weg wurde auch den anwesenden Journalisten abverlangt, bevor Romney und Marius endlich zum eingangs erwähnten Tieropfer schritten. Früher hat Westernhagen bei einem solchen Anlass auch schon mal nach Venedig geladen. Aber der Musik verarbeitenden Industrie geht’s schon länger alles andere als Gold, und das Ambiente im Zollverein Essen ist ja auch hübsch. Wirklich. Außerdem: Haben nicht unlängst in Venedig die Gondolieri gestreikt? Eben.

„Der Champagner prickelt ganz wunderbar“, analysiert die charmante Begleiterin mit geschmackssicherer Zunge – was man vom Gros der 300 geladenen Gäste nicht behaupten kann. Etliche Herren in glatzenwundem Alter stehen nicht zu ihrem Haarausfall und tragen unwürdige Restfrisuren, zu viele Anzugträger huldigen dem Cherno-Jobatey-Style und haben sich, weil Verwegenheit regiert, als Kontrast zur Business-Tapete ein paar topmodische Sneaker an die Füße geschnallt.

Als es endlich losgeht, wird schnell klar, dass die Wahl sportiven Schuhwerks so falsch nicht gewesen sein kann. Wer vorneweg marschiert, ist unklar; sicher ist: es geht zuerst geradeaus, dann links, wieder links und noch einmal links – und an der nächsten Ecke leuchtet endlich ein, dass man einfach fünf Meter durch die erste Tür hätte gehen können, um zum selben Punkt zu gelangen. Sei’s drum, wir warten auf Westernhagen, und das bedeutet nicht nur großes Brimborium, großer Quatsch, sondern auch: Kein Weg ist zu weit für den Mann, der mal als Ruhrpott-Prolet Theo gegen den Rest der Welt angetreten ist, der ein Pfefferminzprinz war und nun, von der Prinzessin der Politik geküsst, seit rund 15 Jahren den Rebell in Armani simuliert.

Aufregend wie ein Fußbad

Nach einer weiteren Treppe sind wir da, das Ziel der Pilgerreise ist erreicht, die nächste Stunde ist dann so aufregend wie ein Fußbad, und das vorherrschende Gefühl ist das hier: Schöne Scheiße. Westernhagen hat, eventuell in weiser Voraussicht, die Fernbedienung mitgenommen. Skippen: unmöglich. Leider.

„Nahaufnahme“ heißt das 22. Album, der Designer-CD-Player im Heiligenscheinwerferkegel macht seinen Job. Überwiegend ruhig ist „Nahaufnahme“, hat aber mit „Daneben“ (sic!) auch den üblichen Brunftiger-Hirsch-Brüller auf Lager, in den 24 Zeilen der ersten Single „Eins“ kommt exakt 11-mal das Wort „ich“ vor – und außerdem gelingen Westernhagen, etwa in „Gejammer“, mitunter wunderbare Bilder, sprachlich ebenso brillant wie prägnant: „Du liegst auf mir kalt wie Schnee / Du mit deinem Loch im Negligé.“

Mal unter uns Klosterschwestern: Westernhagen, dem schon viele schlimme Texte eingefallen sind (etwa die Wiedervereinigungs-Kitschhaubitze „Freiheit“, die deutschsprachige Antwort auf „Winds Of Change“ von den Scorpions) wird als Texter immer schlechter (ja, das geht); Tiefpunkt des neuen Albums ist die Verquickung von Pathos und Politanalyse. „Waren’s die Juden / Der schwarze Mann / War es Bin Laden / Wer fing bloß an / Die Achse des Bösen / Die Demokratie / Keiner weiß wirklich / Wann und Wie“, salbadert Westernhagen in „Ignoranz“: Da kommt jede Hilfe zu spät.

Hartz IV, Medienbranchenkrise, Johannes B. Kerner und Angela Merkel, Mosi tot, Fußballwettskandal, Schni-schna-schnappi und jetzt auch noch die Grippewelle: Es steht nicht allzu gut um unser Land, Westernhagen weiß das und kümmert sich. So nachdenklich, so bedächtig. Zusammen mit überwiegend englischen Musikern, die ganz toll spielen können und trotzdem auf seinem Album immer eins bleiben: Auftragsmucker. Inflationär ist der Flügelhorn-Einsatz, und bei den Saxofonen verfährt unser aller Ma-ri-us nach der Methode, die Loriot in „Pappa ante portas“ erfolgreich anwendete: Es wird sicherlich günstiger, wenn man gleich mehrere nimmt.

Die für jedes Geschmackszentrum mit Restempfinden bedrückend langweiligen 14 Songs sind justament verklungen, da stellt der gestandene Musikjournalist Alan Bangs, ehedem ein Guter, Westernhagen ein paar verabredete Fragen. Unter anderem diese: „Dein Album heißt ‚Nahaufnahme‘ – wie nah sind wir wirklich an Westernhagen dran?“ Westernhagen antwortet, ist höflich, beinahe schüchtern – und sieht dabei aus, als würde er locker bei jedem Heiner-Müller-Lookalike-Wettbewerb den zweiten Platz machen.

Heiner Müller lebt!

Den Sieg verhindert allein die fehlende Zigarre, aber Westernhagen leidet an einer Magen- und Darmgrippe, insofern gilt: schon besser so, das hätte bös in die Hose gehen können. „Wir bleiben so lange hier, bis Engel durch das Studio fliegen“, verrät Westernhagen dann noch, „genau das habe ich zu den anderen gesagt. Und so entstand ein toller musikalischer Dialog.“

Tolle Dialoge führt der Marius auch gerne mit dem Gerhard, seit er 1998 Mitglied im kulturellen Küchenkabinett des Kanzlers ist: „Ich sag ihm direkt die Meinung, weil er der Bundeskanzler ist, den ich auch gewählt habe“, verkündete er einmal – ganz wie seine Fans, wie Otto Normalbürger. Mit einem kleinen Unterschied: „Ich weiß, wenn ich ihn anrufen will, wie ich ihn erreiche.“

Mal abgesehen davon, dass dies nun wirklich kein Mensch wissen will, fällt uns ein, was Westernhagen 2002 sagte: „Es fing an, mich anzukotzen, dieser Westernhagen zu sein.“ Das klingt auch 2005 noch sehr nachvollziehbar, und deshalb ist es allerhöchste Eisenbahn, eine andere Textzeile aus „Gejammer“ in die Tat umzusetzen: „Weg, nichts wie weg von diesem klebrigen Fleck.“

Hinfort auf die Autobahn. Ab durch den Ruhrpott, nach Hause, nach Hause. „Haben Sie mir was zu sagen / Oder ist es nur ein Katzensprung / Von hier nach Westernhagen“, singt Jens Friebe auf seinem sehr schönen Album „Vorher Nachher Bilder“.

Der Katzensprung nach Köln ist gut 80 Kilometer weit. Kein Weg aber ist zu lang, um Westernhagen hinter sich zu lassen.