Ein weiches Ziel mit Zielen

Die Sicherheitsvorkehrungen für US-Präsident George W. Bush sind so streng, dass sie ganze Städte und sogar die Arbeit der EU-Apparate lähmen – kein lästiger Nebeneffekt, sondern der Sinn der Sache

VON CHRISTIAN SEMLER

Das waren noch glückliche Zeiten für Staatsgäste auf Besuch, wenn Fähnchen schwingende Schulklassen ihren Weg zum Staatsempfang säumten, sie im offenen Wagen huldvoll die Ehrerbietungen der Einheimischen entgegennahmen oder sogar der Wagenkolonne Einhalt geboten, um Hände zu drücken und Kleinkinder zu küssen. Der Einzug der Gäste aus der Fremde war eine hoch ritualisierte Angelegenheit, von feudalen Ursprüngen ins demokratische Zeitalter transformiert – Ergebnis der Arbeit des Protokolls, das gemessene Würde und Spontaneität kunstvoll in Einklang brachte.

Alles vergangen – und keine Chance auf Wiederkehr. Die Prämissen der Sicherheit schließen bei Staatsbesuchen heute jede Form des Massengaffens und der Massenakklamation aus, vom Massenprotest ganz zu schweigen. Tendenziell werden die mitreisenden Journalisten zur reinen Staffage, in ihrer Doppelrolle als schiere Anwesende und als Berichterstatter. Höhepunkt dieser Entwicklung: Beim Treffen zwischen Bush und seinen europäischen Kollegen nahe dem irischen Flughafen Shannon im Jahr 2003 durften neben den Medienleuten nur die Kühe auf den umliegenden Feldern glotzen.

Insofern sind die Absperr- und Sicherheitsmaßnahmen der belgischen Polizei anlässlich des Besuchs von Bush nur eine Zuspitzung der eingeübten Routine. Neu ist, dass offiziell niemand weiß, wo der Staatsgast eigentlich logiert (er tut’s in der Botschaft der USA). Und neu ist ferner, dass sowohl die Mitarbeiter der Europäischen Kommission als auch die des Europäischen Rats während des Staatsbesuchs Aufenthaltsverbot an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen haben.

Während also bis jetzt die gähnende Leere beim Staatsbesuch nur der Ausweis einer perfekten Selbstisolierung war, greift das Arbeitsverbot für die EU-Bediensteten ins politische Räderwerk der EU ein und bringt es für zwei Tage zum Stillstand. Auf der Ebene der symbolischen Kommunikation – und auf die kommt es hier an – eine gelungene Aktion. Verbal will der amerikanische Präsident den europäischen Staatsleuten die Botschaft vermitteln, mit dem Streit wegen Irak sei es nun zu Ende, den Europäern käme eine wichtige Rolle bei der weltweiten Verbreitung der Demokratie zu, man müsse gleichberechtigt kooperieren. Auf der symbolischen Ebene aber, der temporären Stilllegung der EU-Apparate, wird klar gemacht, wer hier das Kommando innehaben wird. Kein Wunder, dass ein Angestellter der EU-Kommission gestern seine Reaktion in die Worte fasste: Ich bin schockiert, dass Europa so etwas mit sich machen lässt.

Auch bei der Gestaltung des Reise- und Speiseplans zeigt sich die protokollarisch-hegemonistische Regie auf der symbolischen Ebene. Frankreichs Präsident muss sich zum Abendessen nach Brüssel bequemen, Russlands Präsident Putin ist in die slowakische Hauptstadt Bratislava zum Mittagessen bestellt.

Wenn man bedenkt, dass die Verhandlungen zwischen der Sowjetunion und den tschechoslowakischen Reformkommunisten 1968 wenigstens noch genau an der Grenze zwischen der SU und der ČSSR stattfanden, sieht man, wie weit es inzwischen mit Russland gekommen ist. Wenigstens auf die Anti-Bush-Demonstrationen ist noch Verlass, die, wenngleich zur Karikatur verzerrt, das Konterfei des großen Abwesenden mit sich führen und damit wieder der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Kann Macht durch öffentliche Abwesenheit wirksam symbolisiert werden? Zweifellos, autokratische Herrscher sind nur bei seltenen Gelegenheiten zu sehen. In ihrer Umgebung schweigt man, als wär’s ein byzantinischer Herrscherhof. In den abhängigen Provinzen steht die Kaiser-Statue für die Präsenz des Gott-Herrschers. Dieser bequeme Weg ist dem amerikanischen Weltenlenker verwehrt, denn er muss stets persönlich präsent sein. Er ist es zwar in der Glotze, aber kann er gänzlich aufs nicht virtuelle, sondern reale Publikum verzichten, wenn er im Ausland weilt?

Symbolik der Leere

Der Soziologe Bourdieu hat uns gelehrt, wie die Machteliten symbolische Kommunikation, ja symbolische Formen selbst zu Zwecken des Machterhalts einsetzen. Wie sie den scheinhaften Sachzwang in Symbolik transferieren. Die leeren Straßen und Absperrungen sollen so zum Ausweis einer leider unvermeidlichen Rationalität werden – angesichts der irrationalen, allgegenwärtigen terroristischen Bedrohung. Keine weichen Ziele mehr in den weichen Zentren der Städtebewohner. So die Botschaft. Sicherheit geht vor Bewegungsfreiheit. Womit wir bei Joschka Fischer gelandet sind – auf der symbolischen Ebene.