Geschüttelt, ungerührt

Das Geoforschungszentrum in Potsdam ist so etwas wie der Mittelpunkt der Erde: Bebt sie, blinken hier die Alarmleuchten. Die Forscher gelten als Favoriten für den Auftrag, ein Tsunami-Warnsystem in Indonesien aufzubauen

Auch der Tsunami an Weihnachten wurde zuerst in Potsdam gemeldet

VON JOHANNES GERNERT

Gefeiert haben sie nicht. Dafür wäre bisher auch gar keine Zeit gewesen. Und außerdem ist es ja so: „Das auslösende Moment ist kein Grund zum Feiern“, sagt Jörn Lauterjung, der Leiter des wissenschaftlichen Vorstandsstabs am Geoforschungszentrum (GFZ) zu Potsdam. Das auslösende Moment war schließlich eine tödliche Riesenwelle im Indischen Ozean. Im Übrigen gibt es noch nicht einmal einen konkreten Auftrag, der vom Bundeskanzler übers Bundesforschungsministerium an die Potsdamer Erdforscher weitergereicht worden wäre. Und wenn es den erst einmal gibt, wird das für Jörn Lauterjung und seine Kollegen vor allem bedeuten, „dass ein Haufen Arbeit auf uns zukommt“. Sollte aus diesem Haufen Arbeit am Ende ein funktionsfähiges Tsunami-Frühwarnsystem entstehen, dann hätten sie vielleicht wirklich einen Anlass zum Feiern. So stellt sich die Sache für Jörn Lauterjung dar. Der Diplomphysiker, braune Wollweste, Holzfällerhemd, papierüberhäufter Schreibtisch, ist ein eher nüchterner Typ.

Es mag in den vergangenen Wochen manchmal so gewirkt haben, als würden die Geowissenschaftler aus dem Wissenschaftspark am Potsdamer Telegrafenberg die Tsunami-Frühwarnung im Alleingang nach Indonesien bringen. „Von Anfang an“, sagt Lauterjung, „war das eine Konzeption, die von der Helmholtz-Gemeinschaft getragen wurde.“ Das ist ein deutschlandweiter Zusammenschluss von Forschungszentren. Deshalb arbeiten am Frühwarnsystem auch andere Institute mit.

Die mediale Präsenz der Potsdamer Geoforscher könnte daher rühren, dass das GFZ ganz wesentlich am Zentrum für Katastrophenmanagement beteiligt ist, das vor drei Jahren gemeinsam mit der Universität Karlsruhe gegründet wurde. Am Geoforschungszentrum in Potsdam gibt es außerdem einen Forschungszweig, der sich „Naturkatastrophen“ nennt. Auf genau diese Naturkatastrophenkompetenz verweist Lauterjung auch, wenn jemand fragt, warum weder Amerikaner noch Japaner, die seit Jahren im Pazifik versuchen, möglichst früh vor Tsunamis zu warnen, einen indonesischen Auftrag in Aussicht haben. „Die Katastrophen stehen bei uns seit der Gründung auf der Agenda. Und wir haben das einfach als unsere Pflicht gesehen, dann ein Konzept auf den Tisch zu legen“, sagt Lauterjung.

Erdbebenforscher konkurrieren beim Verzeichnen von gefährlichen Bodenschwingungen beständig darum, die Ersten zu sein. Global gesehen waren die Forscher am Telegrafenberg die Allerersten überhaupt. Zumindest, wenn man Ernst von Rebeur-Paschwitz als einen der ihren betrachtet. Lange bevor das GFZ nach der Wende 1989 gegründet wurde, zeichnete der Astronom 1889 ein Tokioter Erdbeben auf dem Hügel über Potsdam auf – eher zufällig mit einem Pendel, das er eigentlich für Gravitationsmessungen entworfen hatte. Auch der Tsunami an Weihnachten wurde zuerst in Potsdam gemeldet. Nur die Stärke haben sie falsch eingeschätzt – aber das haben alle anderen auch getan.

„Man hat sich bisher mit Tsunamis einfach zu wenig beschäftigt“, sagt Rainer Kind. Er ist Seismologe am GFZ. In seinem Büro mit dem antiquarisch-alten Holzschreibtisch verbringt er viel Zeit vor Schwingungsdiagrammen. Auf einem Bildschirm wellt sich eine schwarze Linie wie Herzausschläge auf dem Monitor einer Intensivstation. Kind bereitet gerade etwas für eine Vorlesung vor. Ein Paar lederne Birkenstock-Pantoffeln liegen in der Ecke. Er trägt eine Kordhose, ein kariertes Hemd, ein graues Sakko. Seine schwarzen Schuhe würden auch einem bayerischen Trachtentänzer gut stehen. Die Computermaus steuert er über einen kleinen, orientalischen Gebetsteppich aus Plastik. Es wirkt sehr gemütlich hier.

Kind erzählt von dem weltweiten seismologischen Netz, das Informationen aus verschiedenen Messstationen nach Potsdam liefert. Dort werden sie automatisch auf einer Weltkarte verzeichnet, die auch im Internet zu sehen ist. Die Karte hängt als Bildschirm ein paar Schritte weiter im Gang. In Europa blinkt ein roter Punkt: Kurz vorher hat die Erde im Saarland gewackelt. Wenn es irgendwo auf der Welt mit einer bestimmten Stärke bebt, meldet sich Rainer Kinds Handy. Es bebt und piepst eigentlich ständig. „Letzte Nacht war nichts“, sagt Kind.

An Weihnachten kam die Nachricht, als er schlief. Da hat er es erst nicht gehört. Und am nächsten Morgen ist er sofort ins Büro gefahren. „Oh, was für ein schönes Erdbeben“, soll er gedacht haben damals – so stand es nachher in der Zeitung. Er lächelt ein bisschen, bedächtig und verlegen sieht es aus. „Man freut sich, wenn man gute Arbeit machen kann“, sagt er. „Aber natürlich kann da eine ganze Stadt vernichtet werden.“

Wenn man erst einmal von einem Erdbeben weiß oder von anderen Tsunami-Ursachen, müsse dieses Wissen wirksam übers Internet und über Handys verteilt werden, sagt Kind. Man dürfe nicht zu oft falschen Alarm schlagen. „In Japan hat man keinen Tsunami verpasst, aber doppelt so viele angekündigt, wie eingetroffen sind“, erzählt Kind. „So verlieren die Leute das Interesse.“ Und das ist fatal. Schließlich weiß man von Erdbeben erst sicher, wenn es zu spät ist. Prognosen sind schwierig und wenig verlässlich. „Die Erdbebenvorhersage hat im Moment einen schlechten Ruf, weil bisher alles falsch war, was angekündigt wurde“, zieht er trocken Bilanz.

Vor ein paar Tagen sind Kind und Lauterjung mit einer Delegation nach Indonesien geflogen, um über die Grundlagen für einen Vertrag zu sprechen. Neue seismologische Stationen sollen aufgebaut werden und Experten ausgebildet. Bojen sollen den Meeresstand festhalten und Satelliten die Meeresoberfläche überwachen. Mit Satelliten haben sie Erfahrung am Geoforschungszentrum. GFZ-1 hieß der erste, der Mitte der 90er-Jahre Meeresströmungen vom All aus erkannte und eine schon vorhandene Diagnose weiter präzisieren konnte: Die Erde ist keine Kugel, wenn man die Oberfläche genau betrachtet. Man sprach fortan von der Potsdamer Kartoffel.

Nicht nur Indonesien interessiert sich für die deutsche Frühwarnung, auch andere Länder aus der Region: Sri Lanka, vielleicht Indien. Kürzlich war der malaysische Botschafter am Telegrafenberg zu Gast. Der Kanzler allerdings ist nicht gekommen, obwohl sein Besuch vor ein paar Wochen in der Presse angekündigt worden war. „Keine Ahnung, wo dieses Gerücht herkam“, sagt Lauterjung.

Globale Erdbebenkarte: www.gfz-potsdam.de/geofon/seismon/globmon.html