Freiwillige Armut

Zu Besuch bei einer ungewöhnlichen Frau

VON GABRIELE GOETTLE

Die Schäferei Hullerbusch von Heino Hermühlen und Mona Lisa Kluth, ein Ökobetrieb mit kleinem Hofladen, liegt in der Feldberger Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns, etwa 120 Kilometer nördlich von Berlin. Einen strammen Fußmarsch entfernt ist das alte Fischerdorf Carwitz, in dem 1933 bis 1945 der Schriftsteller Fallada lebte und arbeitete. Sein Haus am See ist heute Fallada-Museum. Hier wirkt alles idyllisch, so als wenn die Welt noch in Ordnung wäre. Die Landschaft steht unter Naturschutz und mit ihr die Seeadler und vielen anderen Vögel, die Falter, Libellen, Käfer, Eidechsen und Amphibien, die anderswo bereits ausgestorben sind. Es gibt rupfige Wiesen voller Blumen und Kräuter und hügelige, wilde Flächen mit Ginster und Gesträuch, die von den weidenden Schafen und Ziegen stetig gestutzt werden. Ein endlos weiter Himmel überspannt das Land und die klaren, glitzernden Gewässer. Die Luftfeuchtigkeit erzeugt ein seltsam transparentes Licht, in dem alles viel intensiver leuchtet. Es herrscht wohltuende Ruhe, kein Motorboot übertönt das Zirpen der Grillen. Selbst die kleine Personenfähre von Feldberg nach Hullerbusch ist handbetrieben.

Hier lebt und arbeitet Sophie Bayer, die wir an einem strahlend schönen Tag im Mai besuchen. Wir lernten sie vor Jahren zufällig bei einem Besuch auf dem 40 Kilometer entfernten Ziegenhof Regow kennen. Im Gedächtnis war sie uns geblieben als die Frau, die mit ihrem Pferd von Hof zu Hof zieht, arbeitet, Kenntnisse sammelt und rigoros keinerlei Geld dafür nimmt. Inzwischen ist sie eine gestandene Käserin und ebenso kenntnisreiche Hirtin und Melkerin der Ziegen. Sie kann Klauen schneiden, kleinere Krankheiten behandeln und sogar Schafe scheren mit der Hand, sie kann Wolle spinnen und verarbeiten, sie kann filzen und dergleichen mehr. All diese Fähigkeiten stellt Sophie Bayer kostenlos zur Verfügung. Wir möchten gern wissen, weshalb. Sie konnte grade noch für uns einen freien Tag herausschinden, denn fünf Tage später verschwindet sie fürs Erste auf eine Schweizer Alm. Sophie empfängt uns vor dem Hofladen mit heißem Ziegenmilchkaffee. Sie trägt eine verwaschene dunkle Jeans und einen dunklen Pulli, das Haar hat sie hinten zu einem kleinen Schwänzchen zusammengebunden. Sie wirkt fröhlich und lacht viel.

Beim Rundgang zu den Stallungen, wo die Mutterschafe mit ihren Neugeborenen auf frischem duftendem Stroh die ersten ein bis zwei Tage verbringen, geht sie barfuß vor uns her, sorgsam die Füße setzend. Die Ziegenweide, zu der sie uns führt, scheint leer, doch als sie lockende Rufe ertönen lässt, erscheinen plötzlich von zwei Seiten her aus einer Senke Ziegen, die wie Gazellen in der Savanne witternd näher treten. Mit ihren schrägen Pupillen schauen sie uns rätselhaft in die Augen und äsen bald weiter.

Dann setzen wir uns zum Gespräch unter einen großen Kirschbaum. Der Hütehund Horst ist uns gefolgt, er zeigt sich verschmust, obwohl er eine üble, frisch verheilte Wunde über dem Auge hat, Folge einer Beißerei mit ihrem belgischen Hütehund: Heino hat die Wunde selbst genäht, mit drei Stichen, ohne Betäubung, sagt sie, und streichelt den Armen. Er legt sich hin und lagert den Kopf auf ihren Füßen. „Gut, also was wollt ihr wissen? Meine Geschichte ist schnell erzählt“, sagt sie und lacht. „Geboren bin ich 1980, noch in der DDR, aufgewachsen bin ich auf dem Land, auf einem Hof, in einer Wohngemeinschaft mit Körperbehinderten, meine Mutter ist geschieden, und sie arbeitet als Erzieherin für Körperbehinderte. Ich habe noch zwei jüngere Schwestern. Auf dem Hof waren so etwa dreißig Leute, Behinderte und Nichtbehinderte, es war schön. Dann sind wir weggezogen in ein Nachbardorf, aber ich war immer noch auf dem Hof, meine Patentante hat dort gelebt, die habe ich sehr gern gehabt. Das hat mich geprägt, mit vielen Leuten leben, denen was Gutes tun, darauf eingehen, dass sie Hilfe und Pflege brauchen. Ich habe dann meine Schule zu Ende gemacht und danach ein Jahr meine Patentante rund um die Uhr gepflegt, bis zu ihrem Tod. Sie war körperlich behindert, saß im Rollstuhl, ich habe sie gewaschen, gefüttert, gebettet, unterhalten. Sie war sehr empfindlich, hat sehr schnell Schmerzen gekriegt, man musste sie sehr vorsichtig behandeln. Da war ich 16.

Nach diesem Jahr war ich auf Reisen mit einem Freund, das war erst mal schwierig, so in der Fremde, und man wusste nicht Bescheid.“ – „Wo wart ihr?“, fragt meine Freundin Elisabeth. „Wir sind mit dem Pferdewagen von Mecklenburg nach Sachsen, in die Nähe von Leipzig gefahren. Dort hat er sich von seinen Pferden getrennt. Hat sie verschenkt, weil er ungebundener sein wollte. Dann sind wir zu Fuß weiter gegangen und haben den Wagen stehen gelassen. Ich habe alles mitgemacht, obwohl’s mir um die Pferde leidtat. Das war damals die große Liebe.

Dann habe ich mit ihm und ungefähr zwanzig anderen auf einem Selbstversorgerhof gelebt. Das war so eine alte Mühle, mit vier Hektar Land dazu, zwei Hektar waren Ackerland. Das haben wir auch bewirtschaftet. Mit dem Pferd.“ Sie lacht. „Gemäht wurde von Hand, mit Sense. Wir haben in der Mühle Getreide gemahlen und Brot gebacken im Holzofen. Wir hatten keine Elektrizität und kein fließendes Wasser. Aber einen guten Brunnen. Abends zündeten wir Kerzen an. Wir haben eigentlich alles selbst erzeugt, sogar Seife. Wir hatten einen Heilkräutergarten und Obst und Gemüse. Im Winter ist man früh schlafen gegangen, schon wegen der Kälte. Und wenn’s hell wurde, sind wir aufgestanden, Holz hacken, Feuer machen und Getreidebrei kochen für alle. Ich habe bei anderen Leute die Schafe geschoren, dafür bekam ich Wolle, die habe ich gesponnen und mir viel gestrickt und gefilzt. Das meiste hat mir mein Freund beigebracht, von ihm habe ich viel gelernt. Dort hatte ich auch eine kleine Ziegenherde, 15 Stück. Zwei Leute, die weggingen, hatten sie dagelassen, die anderen kriegte ich aus dem Nachbarort geschenkt. Fünf Jahre war ich dort auf dem Hof, zwischendurch sind wir noch mal drei Monate mit dem Fahrrad durch Frankreich gefahren. Wir haben ganz gut gelebt auf diesem Hof, haben sogar Käse gemacht. Zwei Kinder waren auch dort.

Dann hat sich das aber alles allmählich auseinandergelebt. Jetzt wohnen da meine Mutter mit ihrem Freund und noch ein anderer. Inzwischen haben sie Strom, Solar haben sie auf dem Dach, und mit dem Wasserrad erzeugen sie auch noch Strom. Viecher haben sie auch, eine Kuh, zwei Ponys, ein Pferd, Gänse und einen Ziegenbock. Den habe ich als Böcklein mal aufgezogen, weil seine Mutter ihn nicht wollte, und als er geschlechtsreif wurde, hatte ich ein Problem. Spätestens dann muss ja so ein Böcklein geschlachtet werden. Aber ich wollte es nicht verkaufen, es tat mir so leid, also habe ich es vom Tierarzt kastrieren lassen und versprochen, dass es leben darf, bis es tot umfällt. Der Bock lebt jetzt dort und ist der beste Freund meiner Nichte, die drei ist und ihn über alles liebt. Die anderen Ziegen, die habe ich damals verkauft, an gute Leute, die sie nicht schlachten.

Und mit diesem Ziegengeld und mit meinem Pferd bin ich dann, zusammen mit einer Freundin, auf Reisen gegangen. Von Thüringen aus sind wir über die Tschechei nach Polen und durch ganz Polen bis zur Ostsee und wieder zurück. Wir mussten über die grüne Grenze mit unseren Pferden. Damals waren diese Länder noch nicht in der EU. Wir hatten eine Zeltplane für die Nacht oder wenn’s regnete, es gab keinerlei Probleme, im Gegenteil, überall wurden wir freundlich aufgenommen.

Etwa ein halbes Jahr waren wir unterwegs, von Mai bis Oktober. Und nach der Reise habe ich dann bald auf Hullerbusch angefangen. Vorher schon hatte mich Mona Lisa, die Chefin hier, mal gefragt, ob ich nicht vielleicht Urlaubsvertretung machen kann. Weil ich ja selber Ziegen hatte und auch schon Käse machen konnte und öfter auch hier war zu Besuch. Und da hat es sich einfach so ergeben. Die Schwester von meiner Patentante, die hat Schäferin gelernt. Diese Frau war wirklich meine Ersatzmutter und mein absolutes Vorbild. Aber eigentlich, ehrlich gesagt, kann ich mit Ziegen besser als mit Schafen, weil sie einfach viel lustiger sind und komplizierter. Ich brauche Ziegen! Also habe ich hier die Ziegen übernommen. Ich habe natürlich gleich gesagt: Geld nehme ich nicht! Das ist immer etwas überraschend für die Leute. Ich habe gesagt, ich brauche nur Kost und Unterkunft, für mich und mein Pferd. Heino war damit einverstanden, aber er wollte dann unbedingt, dass ich versichert werde, wenn ich hier bin. Ich war vorher die ganzen Jahre über gar nicht versichert. Wenn mal was war, da kannte ich einen Homöopathen, bei dem konnte ich arbeiten, er hatte auch so einen kleinen Hof gehabt, da war immer irgendwas zu tun. Auf diese Weise hat sich das ausgeglichen. Und bei Zahnweh war’s auch so. Da habe ich die Behandlung gegen Gemüse eingetauscht, Kräuter, Käse, Eier, die Zahnärztin hat immer mitgemacht. Das hat gut funktioniert. Und wenn man nicht versichert ist, glaube ich, achtet man auch sehr auf seine Gesundheit.

Aber gut, jetzt bin ich also zwangsweise versichert.“ Sie lacht. „Aber was mir eigentlich hier das Wichtigste ist, ist der Familienanschluss. Die Beziehungen waren mir immer viel wichtiger als jedes Geld. Ich finde, so eine familiäre Beziehung wird sehr gestört, wenn man hier als Angestellte ist. Das ist etwas völlig anderes, so ein Angestelltenverhältnis. Ich schenke die Arbeit her, dadurch bin ich frei. Und die Beziehungen sind auch frei von diesem geschäftlichen Verhältnis. Das wollte ich durch Geld nicht kaputt machen. Heino wollte mich natürlich bezahlen, aber er hat es eingesehen. Dann wollten sie jetzt, dass ich die Fahrerlaubnis mache, und haben mir eben zum Geburtstag die Fahrerlaubnis geschenkt. Sie machen mir schöne Geschenke. Heino hat mir viel beigebracht, auch beim Käse so einige Tricks. Er hat mir sogar den Umgang mit dem Computer und dem Internet beigebracht, ich kann mailen, und ich kann zum Beispiel über die Suchmaschinen Stellenangebote auf Schweizer Almen finden.“ Sie lacht. „Von Mona Lisa habe ich auch eine ganze Menge gelernt, besonders von der Ablammung her und was man so macht bei Problemgeburten, wie man das Lamm dreht oder wann man es rausziehen muss, wenn’s zu groß ist. Dieses Jahr durfte ich zum ersten Mal ganz alleine die Ablammung machen.

Ach, es ist so viel noch, was ich lernen möchte, ich wollte schon mal Schmied lernen, was mit Pferden machen, oder Schäferin werden, wie die Schwester meiner Patentante. Aber, leider, daraus wird nichts, weil ich vor dem Schlachten eine unüberwindliche Angst habe. Ich habe Albträume gehabt.“ Der Hütehund Horst öffnet die Augen und erhebt sich leise knurrend. Ein Mann nähert sich, er trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Berliner Ensemble“, ignoriert den Hund, tritt heran und fragt, wo die Hörner liegen. Sophie sagt: „Die sind oben bei Heino.“ – „Ach so“, sagt er und geht grüßend davon. Sophie erklärt: „Er macht eine Maske, für irgendein Stück, das sie im Berliner Ensemble aufführen.“ Hütehund Horst legt sich seufzend wieder nieder. Am Himmel brummt ein Motorflugzeug.

„Wo waren wir?“, fragt Sophie. „Beim Schlachten“, sagt Elisabeth. „Ah ja, also ich habe nie ein Tier geschlachtet, das könnte ich einfach nicht. Ich bin ja auf dem Land aufgewachsen, wenn da geschlachtet wurde, sind viele Kinder hingerannt, um zuzuschauen. Ich bin schreiend weggerannt. Ich war mal dabei, da wurden grade Enten geschlachtet, der Kopf wurde abgehackt auf dem Holzklotz, dann haben sie sie losgelassen, und die Ente kam ohne Kopf auf mich zugeflattert, flügelschlagend; auf mich, als kleines Kind! Ich hatte ganz lange Angst, dass irgendwo jemand geschlachtet wurde. Auch vor Fleisch hat es mich gegraut. Ich esse bis heute kein Fleisch. Ich habe das Gefühl immer noch in mir, ja, Mitgefühl, aber auch Panik, Verfolgungsangst. Und irgendwie diesen Betrug auch, eben wurde das Tier noch freundlich behandelt, dann beugt sich einer drüber, und ich weiß, dass jetzt gleich was Schlimmes passiert.

Ich hatte ja selber Ziegen, auch alte Ziegen. Da war es mal so, dass eine im Sterben lag und sich sehr lange gequält hat. Ich konnte es nicht mit ansehen und wollte ihr helfen. Ich habe ihr die Luft abgedrückt. Lange. Aber ich konnte sie nicht totmachen.“ Sie lacht gepresst. „Dann kotzte sie, ich habe sie gestreichelt und gesagt, es tut mir leid. Ich musste jemanden holen, der sie totmacht, denn ich wollte schon, dass sie sich nicht so quälen muss. Also Töten, oder gar Schlachten, das ist mir unmöglich. Aber mittlerweile ist es schon so, dass ich nicht mehr die panische Angst kriege beim Anfassen von Fleisch. Ich kann jetzt auch in die Zerlegung gehen und Fleisch einpacken und solche Dinge tun.“

Wir schweigen einen Moment, die Schwalben schnellen mit Lustschreien durch die Luft und fliegen dann mit der Beute in Richtung Stall, wo sie ihre Nester haben. Ich sage: „Peter vom Ziegenhof Regow hat uns mal sehr schlüssig Folgendes erklärt: ‚Es gibt keine Milch ohne Fleisch! Etwa die Hälfte der Lämmer ist männlich und muss geschlachtet werden. Es gibt also keinen ‚unschuldigen‘ Genuss von Milch und Käse.‘ “

Sophie, die Milch und Käse isst, denkt einen Augenblick nach und sagt dann: „Also es stimmt, was die kommerzielle Verwertung angeht. Da wird auf hohe Milchleistung natürlich Wert gelegt, sonst lohnt es sich ja nicht. Aber es geht auch anders. Auf dem Selbstversorgerhof habe ich meine Ziegen gemolken, auch wenn sie keine Lämmer hatten. Ja, das geht! Nicht bei allen, aber manche haben eine Veranlagung und bilden dann Euter. Jetzt im Mai, wenn das Gras wächst, fängt man an. Am Anfang kommt so eine Art Lymphflüssigkeit, später wird es milchig. Bis es verwendbar ist, dauert es etwa zwei Wochen. Dann geben sie richtig Milch, einen Liter pro Ziege kriegt man schon hin. Ziegen mit Lamm geben so zwei bis zweieinhalb Liter. Von der Milch habe ich auch Käse gemacht damals, sie ist nicht ganz so fett. Aber es geht eben auch ohne „Fleisch“. Die kamen dann schon immer angelaufen zum Melken, sie behandeln dich wie das Lamm, ja, ich bin ihr Lamm.“ Sie lacht vergnügt.

„Aber hier wirtschaften wir natürlich ganz anders und da habe ich auch eine große Verantwortung, dem Betrieb gegenüber, für die Tiere, für die Milch. Denn wenn du plötzlich einen Kessel mit 270 Litern Milch hast zum Käsen – gestern zum Beispiel waren es 360 Liter, ich käse alle zwei Tage –, also bei solchen Mengen musst du mit absoluter Konzentration arbeiten. Der Käse wird ja gebraucht für den Verkauf. Hier wird schon sehr viel mit Geld gemacht, sie müssen Geld verdienen und gucken, dass sie ihre Schulden abtragen können, die sie machen mussten für das alles, den Hausbau usw. Ja, und ich versuche, ein bisschen dabei zu helfen.“

Hütehund Horst kratzt sich ausgiebig hinter dem Ohr und sinkt dann wieder zu Sophies Füßen. Ich sage: „Du lebst anscheinend ganz gut in deiner selbst gewählten Armut und Bedürfnislosigkeit, du brauchst keine Ideologie, du bist frei von Besitz, von Schulden und Sorgen.“ Sophie lächelt. „Als arm sehe ich mich gar nicht. Aber Sorgen habe ich schon, Besitz auch. Ich habe ja das Pferd, ein Thüringer Kaltblut ist das, es steht drüben auf der Weide. Und ich habe den Hund, er ist groß, ein langhaariger, schwarzer Belgischer Hütehund, er ist ein bisschen komisch, ich habe ihn lieber dringelassen. Und ich habe vier Zwerghühner mit Hahn und Küken. Kleidung bekomme ich geschenkt von anderen, die trage ich auf, und was ich sonst noch so brauche für die Hygiene usw., das bringen sie mir mit.“

Ich bitte Sophie, uns ihren Tagesablauf zu schildern. Sie schlägt die Beine übereinander und beginnt: „Es ist so, im Sommer schlafe ich draußen, im Wagen, die Tür ist offen, und der Hund ist bei mir. Um vier stehe ich auf und eile zum Melkstand. Der ist im Freien, und es ist oft noch ziemlich kalt. Dann meistens Frühstück, und so um sieben gehe ich in die Käserei, mache Käse oder Käsepflege und was sonst so zu machen ist. So um zwei Uhr bin ich etwa fertig, um fünf ist dann das abendliche Melken. Also, man hat immer einen anstrengenden und einen weniger anstrengenden Tag. Im Winter, wenn die Milch weg ist, ist es dafür sehr ruhig. Aber im Sommer, da arbeite ich schon mal auch 12 bis 16 Stunden. Um zehn abends gehe ich ins Bett und schlafe sofort ein. Und dann ist es so, ich koche sehr gerne, habe eine Zeit lang viele Kochbücher gelesen und es nachgekocht. Wir kochen hier abwechselnd, wer grade Zeit hat. Mona Lisa macht ja die Schafe und was sonst alles so anfällt in Hof und Haushalt. Heino macht den Acker, Heu und Getreide für die Tiere baut er selbst an, er schlachtet, macht den Hausmeister und Springer für alles. Und er geht natürlich mit den Tieren auf die Weiden. Und dann gibt es noch Helferinnen im Laden. Natürlich essen nicht alle vegetarisch. Also, wenn ich koche, dann kann ich mittlerweile auch Fleisch zubereiten für die anderen, ich koche sogar Soljanka für den Laden, die lass ich dann von Heino abschmecken, sicherheitshalber. Was mir sehr wichtig ist, ist das Zusammensein beim Essen, die gute Stimmung, dass wir uns unterhalten und lachen.

Die meiste Zeit am Tag verbringe ich ja stumm. Das heißt, ich rede natürlich mit dem Hund. Und viel mit den Ziegen. Aber mir macht das nichts. Ich war schon als Kind öfter alleine. Meine Mutter hat vor meinem Laufgitter eine Ziege angepflockt, mit der war ich stundenlang glücklich und zufrieden. Vielleicht kann ich eher mit Tieren als mit Menschen.“ Sie lacht schelmisch. Elisabeth fragt Sophie: „Was ist mit Zerstreuung, Fernsehen, fährst du mal weg?“ – „Nee“, sagt Sophie. „Ich vergnüge mich mit Arbeit. Fernsehen brauche ich nicht. Ja, mal im Winter, wenn nichts zutun ist. Ein Radio habe ich, aber eigentlich gehe ich am liebsten rum und hör mir die Vögel an. Eine Weile habe ich viele Käsebücher und Kochbücher gelesen. Aber sonst? Mal segeln, mal mitfahren.

In den fast vier Jahren, die ich hier bin, war ich kein einziges Mal in Berlin, meinen Vater besuchen. Wir hatten lange keinen Kontakt mehr, und er hat sich plötzlich gemeldet. Aber in so einer Stadt, da kriege ich Zustände! Tag und Nacht Lärm und Licht. Die Leute sind so hektisch, ich sehe die Autos schnell vorbeifahren, die Straßenbahn braust heran, das alles versetzt mich in Panik. Ich und die Tiere, wir bewegen uns hier in einem vollkommen anderen Rhythmus. In Berlin, da werde ich automatisch zu einer anderen Natur. Ich könnte nie in der Stadt leben. Ich brauche den Überblick, die Ruhe, meine Freiheit und die Tiere.“

Ich sage: „Das ist ja alles gut und schön, solange du jung bist und gesund und arbeiten kannst.“ Sophie lächelt. „Ich weiß schon, was du sagen willst, das kommt immer: Was passiert, wenn du alt bist, keine Rente hast und nichts?! Also, ich habe mich nie gefürchtet vor einem Leben ohne Geld, und ich fürchte mich auch nicht vor dem Alter: Da macht man sich, glaube ich, als junger Mensch nie so furchtsame Gedanken. Ich meine, heute weiß man doch gar nicht mehr, ob man im Alter überhaupt noch eine Rente kriegt – auch wenn ich jetzt gegen Geld arbeiten und viel einzahlen würde – das ist ja alles total unsicher. Wir haben ja jetzt diese Wirtschaftskrise, und wenn die schlimmer wird … Darüber denke ich schon nach, über die Welt, denn es trifft ja am schlimmsten die allerärmsten Länder und Menschen. Aber auch hier bei uns könnten die Probleme sehr groß werden, denn viele Städter wissen ja gar nicht, wie man sich helfen kann in der Not. Die sind körperlich schwere Arbeit zur eigenen Ernährung gar nicht gewohnt. Also ich kann jederzeit mich und einige andere durchbringen mit Selbstversorgung, ich habe keine Angst vor der Zukunft.

Und wenn ich alt bin, falls ich überhaupt alt werde“, sie lacht, „da wird man sehen. Ich denke, ich kann schon irgendwo irgendwie überleben. Vielleicht kriege ich ja auch noch Kinder, die mich dann im Alter umsorgen?“ Sie lacht sehr. „Aber erst mal finde ich es wichtig, jetzt möglichst glücklich zu leben, wo ich es noch kann. Und mich macht es ja schon glücklich, wenn ich ein warmes Plätzchen zum Schlafen habe, dass ich satt werde und meine Tiere auch, dass ich eine gute Arbeit machen kann. Sexualität?“ Sie lacht. „Na ihr habt Fragen, na ja, da war der Freund damals, das war Liebe, aber es hat sich auseinandergelebt. Wir schreiben uns noch. Im Moment, ich weiß nicht … es ist so, dass mich die Arbeit hier ausreichend erfüllt. Es kommt schon manchmal vor, dass ich Angst vor dem Alleinsein habe, also vor der Einsamkeit. Ich möchte nicht irgendwo alleine leben. Ich brauche Menschen um mich herum, denen ich was Gutes tun kann, die mir Liebe zurückschenken. Aber ich brauche auch sehr viel Zeit für mich selber, wo ich mich zurückziehen kann und schweigen und nachdenken.

Die Liebe ist mir ganz wichtig, also die familiäre Liebe meine ich. Ich bin hier gern gesehen. Für Heino jedenfalls bin ich wie eine große Tochter, obwohl er eine Tochter hat. Die lernt gerade Schäferin. Sie wird ihrem Vater später sicher mal helfen. Bis dahin mache ich das. Aber es ist schon manchmal kummervoll, wenn ich viel gearbeitet habe, und dann kommt nicht so viel Liebe und Anerkennung zurück, wie ich gehofft habe. Ich brauche das aber, dass die anderen meine Arbeit beachten. Das ist für mich unheimlich viel Lohn. Das kann man mit Geld gar nicht bezahlen! Aber ich kann ja nicht aufrechnen, ich kann nicht sagen, ihr habt mich nicht genug gelobt und nicht genug lieb. Dann arbeite ich eben noch mehr. Ja, ich bin schon auch sehr arbeitssüchtig, vielleicht.

Letztes Jahr bin ich umgekippt, unten in der Koppel. Es war schwül und es war stressig. Überhaupt wurde es letztes Jahr richtig stressig. Ich habe Heino und Mona Lisa dauernd Arbeit abgenommen, damit sie sich erholen. Man kann es aber auch so sagen: Ich raube Arbeit, um Liebe zu ernten. Meine Sehnsucht nach Liebe, die war manchmal einfach zu groß, sodass ich über meine Grenzen gegangen bin. Auch über die Grenzen von anderen. Das ist mein Problem. Aber sie können mich nicht mehr lieben. Das ist meine Zwickmühle.“ Sie seufzt. „Deshalb haben wir dann auch alle zusammen festgestellt, dass ich mal rausmuss hier, weit weg, für eine Weile. Das ist der Grund, weshalb ich in die Schweiz gehe, auf die Alm zu den Kühen, Käse machen. Aber es ist auch so, als Käserin kommst du irgendwann an deine Grenzen. Der Heino hat mir alles beigebracht, was er weiß über Käse. Jetzt bin ich besser als er. In der Schweiz kann ich noch was lernen, da haben sie eine alte Käsetradition, die machen das unter schwierigen Bedingungen, auf dem Berg oben, mit Holzfeuerung und so. Bei Linthal ist diese Alm, kennt ihr das? Na, jedenfalls werde ich dort mit einem jungen Mann zusammenarbeiten, er ist Anfang 20, und wir haben 345 Kühe zu melken.

Ich muss dort für Geld arbeiten, das ist in der Schweiz so, für eine riesige Summe von Geld! Davon gehen dann auch Steuern ab und die Kranken- und Unfallversicherung, sogar die Pensionskasse.“ Sie lacht. „Ich sehe mich schon, mein Leben wird sich vollkommen ändern. Ich habe sogar schon Schuhe, richtige solide Bergschuhe. Und Sonnencreme. Einerseits freue ich mich furchtbar auf die Reise, auf die Landschaft, die bestimmt sehr schön ist. Und auf die Kühe, das Käsen. Andererseits werde ich am Freitag weggehen mit Spannung im Körper, das spüre ich jetzt schon. Ich mache mir natürlich Sorgen, weil ich nicht weiß, ob hier alles so klappt, wie es muss. Aber vielleicht klappt es ja alles, vielleicht geht’s auch ohne mich ganz gut, vielleicht brauchen sie mich gar nicht mehr, wenn ich zurückkomme?“

Sophie wirkt ein wenig bekümmert. Sie schweigt einen Moment und zieht ihren Fuß unter dem Hundekopf hervor. In der Nähe in den Hecken singt ein Nachtigallenmännchen sein Crescendo in Wiederholungen und Variationen, dazwischen lässt es einen ungeheuren Schluchzer aus der kleinen Kehle ertönen. Sophie sagt: „Jetzt singen sie Tag und Nacht. Im Juni ist dann allmählich Schluss damit, aber da bin ich ja nicht mehr hier, und auf der Alm ist bestimmt keine Nachtigall, oder? Mal sehen, wie alles wird. Was ein bisschen blöd ist: Wenn ich jetzt weg bin, muss Heino zwei Leute zahlen, ich glaube, die bekommen jeweils 1.300 Euro. Das ist schon erschreckend, dass er so viel ausgeben muss. Na ja, es musste einfach sein, ich muss weg. Ich bleibe bis Ende September. Anfang Oktober besuche ich meine Schwester, und danach komme ich wieder zurück. Mein Pferdchen bleibt hier. Den Rex, meinen Hund, den nehme ich mit, keine Ahnung, ob das gut geht. Ich habe schon ein bisschen Angst davor, zwölf Stunden Zugfahrt und fremde Leute …“

Wir wünschen ihr alles Gute, sie lädt uns noch in die Wohnküche des Hauses ein, zu einer kleinen Käsemahlzeit. Wir bewundern den aus Lehm geformten Ofen und genießen die Palette ihrer köstlichen Ziegenkäse.

Sophie Bayer ist vier Tage später gestorben. Sie und Heino Hermühlen, der Schäfer von Hullerbusch, sind am Donnerstag, dem 28. Mai, bei einem Segelunfall im Carwitzer See ertrunken.