Das Gesicht der Krise ist weiblich

KRISENFOLGEN In Kambodscha sind Frauen am härtesten von der Rezession betroffen. Sie arbeiten im Textilsektor, der um 60 Prozent eingebrochen ist. Bevölkerung leidet stark

Fünf Millionen Kambodschaner leben von weniger als 1,25 Dollar pro Tag

VON EILEEN STILLER

Sosatra Than schiebt den mattglänzenden Seidenstoff unter die Singer-Nähmaschine, ratatat, legt Spitze auf, ratatat, drapiert eine golddurchwirkte Schleife, ratatat. Ihre amerikanische Kundin nickt zufrieden. Mit den 25 Dollar, die sie Sosatra für das maßgeschneiderte Ballkleid überreicht, hat die Kambodschanerin schon die Hälfte des Monatslohns verdient, den sie als Fabriknäherin bis zu ihrer Kündigung vor einem halben Jahr erhielt. Trotzdem legt die 22-Jährige ihre Stirn in Falten. 60.000 lautet die Zahl, die ihr Sorgen bereitet. So viele Menschen haben wie sie ihre Anstellung im Textilsektor verloren, seit die Weltwirtschaftskrise auch Kambodscha voll erwischt hat. Fast alle, genauer 90 Prozent der Entlassenen, sind Frauen.

„Das Gesicht der Krise ist in Kambodscha weiblich“, sagt Sukti Dasgupta von der International Labour Organisation (ILO) im thailändischen Bangkok. Dreiviertel der gekündigten Näherinnen kehren zurück zu ihren Familien in die Provinz. Auf dem Land bleibt ihnen dann nicht viel mehr zum Überleben als die Subsistenzwirtschaft durch Ackerbau oder Fischfang. Frauen versorgten zuletzt etwa 20 Prozent der kambodschanischen Bevölkerung mit ihrem Gehalt. „Fehlt dieses Geld, dürfte die weit verbreitete Mangelernährung zunehmen, auch die hohe Mütter- und Kindersterblichkeit steigt weiter“, warnt Dasgupta. Kinder gehen statt zur Schule wieder aufs Feld oder auf den Markt.

Einst waren die Frauen in die Hauptstadt Phnom Penh emigriert, um als Fabrikarbeiterinnen am beispiellosen Wirtschaftsboom des südostasiatischen Landes teilzuhaben. Seit dem Ende des Bürgerkrieges vor gut zehn Jahren legte Kambodscha beachtliche Wachstumsraten vor, seit 2005 im zweistelligen Bereich. Tragende Säule der Wirtschaft ist seit je die rein exportorientierte Textilbranche. Kambodschas Exporterlöse werden zu mehr als 75 Prozent von der produzierenden Textilindustrie gestemmt. Viele internationale Modeunternehmen – von Levis über H&M und adidas bis zu Gap – lassen in den meist rings um Phnom Penh siedelnden Textilfabriken Hosen, T-Shirts und Jeans zusammennähen. In der Regel arbeiten sie mit Subunternehmern aus Südkorea, China oder Taiwan zusammen. Wegen der geringeren Lohnkosten in Kambodscha und weil die Exportquoten ihrer Heimatländer durch das sogenannte Multi-Fibre-Abkommen bis 1. Januar 2005 beschränkt waren, lagerten die asiatischen Unternehmer ihre Fabriken in das kambodschanische Königreich aus. Die Kleidungsstücke landeten zu 80 Prozent in den Auslagen amerikanischer Malls, das übrige Fünftel gelangte nach Europa. Doch seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise machen in Kambodscha immer mehr Fabriken dicht oder entlassen Arbeiterinnen.

Laut einer nationalen Statistik wurden seit August 2008 gut 70 Fabriken von damals 291 geschlossen, nur wenige machten im Gegenzug neu auf. Eine Erholung ist vorerst nicht in Sicht. Die dramatischen Einbrüche im Textilsektor von 60 Prozent im März 2009 schlagen sich auf die gesamte Wirtschaft durch. Die Weltbank rechnet 2009 erstmals in der kambodschanischen Nachkriegsgeschichte mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung auf 4,8 Prozent. Die Inflation explodierte 2008 auf einen Jahresdurchschnittswert von gut 20 Prozent.

ILO-Expertin Sukti Dasgupta befürchtet angesichts dessen, dass die über Jahre mühsam errungenen Fortschritte eines der ärmsten Länder der Welt binnen wenigen Monaten zunichte gemacht werden könnten. Nach wie vor leben ein Drittel aller Kambodschaner unterhalb der Armutsgrenze. Das bedeutet, dass fünf Millionen Menschen mit weniger als 1,25 Dollar pro Tag auskommen müssen. Die Stellungnahmen des Ministerpräsidenten Hun Sen zu den Massenentlassungen, sie klingen eher nach einer bitteren Drohung denn nach einer Bitte: keine Demonstrationen, keine Streiks. Es könnten sonst weitere Arbeiterinnen ihren Job aufgeben müssen. Sosatra Than hat vorerst Glück im Unglück. Nach ihrer Kündigung konnte sie sich eine Ecke im Obststand ihrer Schwägerin auf dem Psar Toul Tom Poung, dem sogenannten Russenmarkt von Phnom Penh, einrichten. In der stickigen Markthalle gibt es alles, Mangos und Spoiler, Nagellack und gebrannte CDs, mitunter auch Blindgänger aus Bürgerkriegszeiten, die in kambodschanischen Häusern als Blumenkübel dienen.

Wie man es auch dreht und wendet, die Krise der Weltwirtschaft mag von einer Handvoll mächtiger Männer an der Wall Street losgetreten worden sein. Zu den Leidtragenden gehören heute zehntausende ohnmächtiger Frauen in Kambodscha.