Sophie Scholl heißt Horst Köhler

Der Bundespräsident guckt mit Schülern „Sophie Scholl“. Er fühlt sich als erfolgreicher Erbe des Widerstands, die Schüler sehen eine Aufforderung, die Welt zu ändern

BERLIN taz ■ „Heute früh bin ich aufgewacht“, erzählt Horst Köhler, „und habe gedacht: Da bin ich geboren an dem Tag, wo die umgebracht wurden.“ Der Bundespräsident sitzt im Saal 5 des Kinos CineStar am Potsdamer Platz in Berlin. Er hat auf der Leinwand gerade den Weg der Geschwister Scholl unter das Schafott verfolgt. „Ich bin geboren am 22. Februar 1943, am Tag der Hinrichtung von Sophie und Hans Scholl.“

Heute, am Podium neben dem Bundespräsidenten, trägt Sophie Scholl Jeans und Turnschuhe. Auf der Berlinale erhielt die Darstellerin Julia Jentsch einen Silbernen Bären. Auf dem Teppich des CineStar schaut sie jung und schön aus. Politiker treten gerne mit schöne Schauspielerinnen auf. Auch die 80 Schüler der Sophie-Scholl-Oberschule, die mit Pepsi-Cola-Bechern in den Sessel lümmeln, passen in das Format, das vor allem Würdenträger lieben: Würdenträger sprechen mit den Menschen.

Es ist nicht leicht, als Bundespräsident eine Frage abzubekommen, wenn man zwischen 80 Gymnasiasten und Julia Jentsch sitzt. Und trotzdem wäre es unfair zu sagen, dass der 62-Jährige und die 18-, 19-Jährigen nicht miteinander ins Gespräch kamen. „Interessieren Sie sich, fragen Sie nach!“, ruft Köhler in den Saal 5, doch der Wechsel von Fragen und Antworten folgt anderen Gesetzen, als sie das Drehbuch für Bürgerbegegnungen vorsah. Der Präsident appelliert zwar an Deutschlands Jugend – aber die Jugend appelliert einfach zurück.

Beispiel Rechtsextremismus. Die Politik alleine könne da wenig ausrichten, sagt Köhler, „viel wichtiger“ sei die Gesellschaft. Es ist Köhlers Credo auch bei anderen Gelegenheiten: Die Bürger sollten nicht auf die Antworten der Politik warten, sondern lieber selbst handeln. Doch die Jugendlichen wollen den ersten Politiker im Lande nicht laufen lassen. Sie stellen präzise und konzentriert dieselbe Frage in immer neuer Form: Welche Konsequenzen soll das konsequente Leben der Sophie Scholl für die Politiker haben?

Wenn Widerstand so wichtig sei, fragt etwa der 19-jährige George Thelitz, „was tut die Bundesregierung für Widerstandsgruppen anderswo in der Welt?“ Hinterher wird George erklären, Köhler sei ihm ausgewichen, dabei habe er doch nur gewaltfreie Gruppen im Auge gehabt. „Sophie Scholl hat ihr Gewissen über das Gesetz gestellt“, sagt ein Schüler mit Zopf und rutscht unversehens ins Du: „Würdest du das auch tun?“

Köhler müht sich redlich, aber er ficht den Abwehrkampf des ewigen Realismus gegen den jugendlichen Idealismus. „Eine prima Verfassung“ hätten die Deutschen doch, ganz im Sinne der Geschwister. Hier gebe es also zum Widerstand keinen Anlass – und anderswo? „Ich bin traurig, sozusagen todtraurig, dass trotz unserer Verfassung so was passierte wie in Ruanda.“ Auch wenn Köhler das politische Erbe der Scholls bereits verwirklicht sieht, die Flugblätter habe er gestern Abend noch mal gelesen. „Also, ich fand’s toll, was die da aufgeschrieben haben, da stecken unheimlich viel Werte drin.“ PATRIK SCHWARZ