Der neue Marat

WAHLKAMPF Oskar Lafontaine begegnete sich als Jean Paul Marat: in einem Revolutionsstück im Schauspielhaus Hamburg

VON KLAUS IRLER

Oskar Lafontaine reißt sich den Schlips vom Hals und legt ihn zwischen seine Beine. Gerade ist er noch über die Bühne gehetzt und hat politische Schlagwörter in ein Mikrofon gesprochen, jetzt aber tönt „Sex Machine“ aus den Boxen. Lafontaine nähert sich einer 16-Jährigen, die in einer Badewanne auf ihn wartet. Er ist dick und weißhaarig und sein politisches Programm hat er so schnell vergessen, wie er es vorher von sich gegeben hat.

„Was wäre die Revolution ohne ein bisschen Kopulation“, sagt seine Assistentin kurz bevor die 16-Jährige in der Badewanne auf ihm sitzt. Dann ist da ein Blumenstrauß auf der Bühne und die 16-Jährige zückt eine Pistole. Lafontaine wird von ihr erschossen.

Gleich danach betritt der Chor der Armen die Bühne des Hamburger Schauspielhauses zum großen Finale des Stückes „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“.

„Hamburg soll brennen!“

In dem Stück geht es um die Ideen von Revolution im Laufe der letzten 220 Jahre und um die Aufstandsfähigkeit des heutigen Prekariats. Die Figur Lafontaine ist in das Stück integriert als Wiedergänger des jakobinischen Revolutionsführers Jean Paul Marat, der von Charlotte Corday im Juli 1793 in seiner Badewanne ermordet wurde.

An diesem Mittwochabend sitzt der reale Oskar Lafontaine im Parkett des Schauspielhauses und als das Publikum beim Schlussapplaus vor Begeisterung nach und nach aufsteht, bleibt er lange sitzen. Lafontaine ist auf Einladung des Schauspielhauses gekommen und begibt sich nach Ende des Stücks auf ein Podium, um mit Regisseur Volker Lösch, der Dramaturgin Beate Seidel, Mitgliedern des Ensembles und den Zuschauern ins Gespräch zu kommen.

Wie er die Darstellung seiner Person auf der Bühne fand, wird er gefragt. „Im Moment bin ich auf der politischen Bühne derjenige, den man in dem Stück verwenden kann“, sagt Lafontaine und merkt schnell, wie eitel das klingt. Lafontaine als der Revolutionsführer unserer Zeit. Also ändert er schnell die Richtung: „Faszinierend fand ich in erster Linie den Chor. Wir haben ihn eingeladen auf unseren Parteitag.“

Der Chor besteht aus 24 Hamburgern, die aus dem wirklichen Leben stammen und am unteren Ende der sozialen Skala stehen – sei es wegen Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit oder Überschuldung. Die Chormitglieder schreien ihre Schicksale heraus und die Demütigung, die es für sie bedeutet, arm zu sein. Am Ende der Inszenierung zerfetzt der Chor Wahlplakate von Politikern, verliest die Namen der 28 reichsten Bewohner Hamburgs und fordert: „Hamburg soll brennen!“

Ob die Basis eine Führerpersönlichkeit braucht, um revolutionär in Gang zu kommen, wird Lafontaine gefragt. „Eine Revolution ist nur möglich, wenn sie sich nicht auf einen Führer verlässt, sondern die Massen in Bewegung kommen“, sagt Lafontaine. Er wirkt locker, weil ihm schnell klar ist, dass das hier ein Heimspiel wird. Gemeinsam mit Theatermachern, sozial Benachteiligten und einem tendenziell linken Publikum über die Revolution nachdenken. Zum Beispiel über die von 1989, bei der man „das Volksvermögen hätte nutzen können, um Betriebe mit Mitarbeiterbeteiligung aufzubauen“, sagt Lafontaine. Das kommt an.

Politikertheater

Lafontaine ist ein zugewandter Zuhörer, er zeigt gerne seine Handflächen her und nutzt immer mindestens einen Arm für eine öffnende Geste. Die Schulter fallen nach vorne und Krawatte braucht er keine.

Dass sie ihn auf der Bühne als wollüstigen alten Mann und oberflächlichen Medienprofi dargestellt haben, hat er schnell weggesteckt. Und es wurde auch nicht weiter vertieft.

Nun geht es hier um Grundsätzliches, mal verklausuliert vorgetragen von Regisseur Lösch, der Lafontaines Ausstieg aus der SPD-Regierung 1999 als Rollenwechsel zu verstehen versucht, mal deutlich vorgetragen von einem Chormitglied, das ruft: „Ich bin verhungert, bis irgendwann mal der politische Streik kommt.“ Lafontaine switcht zwischen den Abstraktionsebenen hin und her. Das klappt.

Immer wieder lobt er den Chor und weil der Chor dann doch nicht der Star des Abends ist, gibt Lafontaine am Ende eine Zugabe von 15 Minuten. Volker Lösch fragt ihn, ob er sich vorstellen könne, demnächst selbst bei einem seiner Stücke mitzuspielen. „Da müsste ich drüber nachdenken“, sagt Lafontaine. „Aber wenn Politiker Theater spielen, wird das immer als Eitelkeit ausgelegt.“ Sicher wäre es interessant, Lafontaine als Schauspieler auf der Bühne statt als Politiker auf diesem Podium zu sehen. Auf diesem Podium nämlich fand er keine Reibungsfläche.