Geht der Kita-Streik zu weit?
JA

BETREUUNG Seit Mitte Mai streiken Erzieherinnen und Erzieher – ohne Ergebnis

Ursula von der Leyen, CDU-Politikerin, ist Bundesfamilienministerin

Vorweg: Das Anliegen der Erzieherinnen und Erzieher ist berechtigt. Mehr Personal und Qualität für die frühe Bildung geht nicht zum Nulltarif. Der Bund zahlt Milliarden zu, Spielräume sind also für die kommunalen Arbeitgeber da. Aber auch die Arbeitnehmerseite muss sich die Frage gefallen lassen, warum sie die seit vier Jahren blockierten Aufstiegschancen für Erzieherinnen nicht schon in den fetten Jahren zum Thema gemacht hat. Niemand hat das Recht, sich jetzt in den Schmollwinkel zurückzuziehen, während tausende Eltern streikbedingt von einem Betreuungsnotstand in den nächsten schlittern. Wenn jetzt versucht wird, über die Not der Eltern Druck aufzubauen, wird es am Ende nur Verlierer geben: unglaubwürdige Tarifpartner, vor allem aber engagierte junge Eltern, denen im Job wieder das Stigma anhaftet, der Kinder wegen nicht voll einsetzbar zu sein. Also, zurück an den Verhandlungstisch!

Claudia Jansen hat in Köln die Initiative „Elternstreik“ gegründet

Ein Streik muss wehtun – diesen Satz hören wir betroffenen Familien seit über sechs Wochen. Die Antwort vorweg: Ja, die gewählte Form des Streiks tut Eltern und Kindern weh! Sie nährt Existenzängste und lässt alleinerziehende berufstätige Eltern verzweifeln. Sie nimmt Kindern die hart erarbeitete Sicherheit in der außerfamiliären Betreuung. Unser zweijähriger Sohn war vor dem Streik ein robuster Draufgänger – nun ist er ein kleiner Junge, der herumgetragen werden möchte, viel weint und unter Schlafstörungen leidet. Kritik von uns Eltern stellt weder das Streikrecht noch die Forderungen in Frage. Wir erwarten jedoch von beiden Tarifpartnern Respekt. Ob diese Einmischung zulässig ist? Wir Eltern finden, das sind wir unseren Kindern und unserem Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf schuldig!

Heinz Hilgers ist seit 16 Jahren Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes

Der Streik trifft nicht nur Eltern – er schadet auch den Kindern, die sich in der Not mit ständig wechselnden Bezugspersonen abfinden müssen. Bei ganz kleinen Kindern kann dies sogar zu einer Beeinträchtigung der Hirnentwicklung führen. Aber auch die Erzieherinnen und Erzieher werden nach Abschluss des Streiks damit leben müssen, dass sich Kinder plötzlich anders verhalten. Ich finde: es ist aber nicht das Personal der Kitas, das hier nachgeben sollte. Ihr Anliegen ist mehr als berechtigt. Wer nachgeben muss? Natürlich die politisch Verantwortlichen.

Klaus Keller, Pfleger aus Hanau, hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt

Wie streikt man in sozialen Berufen? Ehrlich gesagt: ich weiß es nicht. Ich habe 20 Jahre in der Krankenpflege gearbeitet und empfand die ersten Steiks als puren Nonsens. Ich hätte lieber jeden Kampf bleiben lassen, statt den Patienten zu erzählen: „Wir streiken heute.“ Man trifft doch nicht den Arbeitgeber, wenn man sich nicht um die Kinder kümmert – es sei denn, man will die Eltern treffen. Die handeln aber keine Tarifvertäge aus.

NEIN

Birgit Hammer-Sommer ist Erzieherin in einer Kinderkrippe in München

Ironischerweise erweist sich bei der Durchsetzung unserer Interessen ein Aspekt unserer Arbeit als kontraproduktiv, auf den wir ansonsten stolz sein dürfen: unsere Nähe und unser Vertrauensverhältnis zu den Eltern. Am einfachsten haben es die Kollegen im produzierenden Gewerbe: Die treffen mit ihren Aktionen direkt die Arbeitgeber. Streiken aber beispielsweise Flugbegleiter, versuchen die Kunden, sich für entgangene Leistungen bei den Fluggesellschaften schadlos zu halten, und zwingen diese dadurch, in Verhandlungen einzulenken. In unserem Falle jedoch wendet sich der verständliche Unmut der Eltern nicht gegen die Träger, sondern wegen der erwähnten Nähe gegen uns, die ihnen vertrauten Ansprechpartner. Wer diesen strukturellen Zusammenhang verstanden hat, müsste sich logischerweise unseren Forderungen anschließen, um den Druck auf die Arbeitgeber zu erhöhen, zu einem Abschluss zu kommen.

Achim Meerkamp, Ver.di-Vorstand, ist ein Verhandlungsführer im Kita-Streik

Der Kita-Streik geht überhaupt nicht zu weit. Zu weit geht ein kommunaler Arbeitgeberverband, der seit März 2008 Problemlösungen verweigert und dessen hochrangige Vertreter jetzt öffentlich behaupten, die Erzieherinnen würden schon genug verdienen. Und zu weit gehen Bürgermeister, die mangelnde Bildungsarbeit beklagen, aber keinen Finger krumm machen zur Lösung des Problems. Dabei haben sie das Sagen im kommunalen Arbeitgeberverband. Wie war das nochmal mit „Schaden abwenden vom Volk“? Wenn erstmals in Deutschland über 30.000 Fachkräfte in der sozialen Arbeit streiken, für einen Tarifvertrag zur Gesundheitsförderung, für bessere Arbeitsbedingungen, für eine Aufwertung ihrer Arbeit und damit des Bildungssystems, dann kann sich ein öffentlicher Arbeitgeber nicht im Sessel zurücklehnen und abwarten in der Hoffnung, Eltern würden schon irgendwann vor lauter Not auf die Erzieherinnen losgehen. Aber da haben sie die Rechnung ohne die Eltern gemacht.

Professor Werner Zettelmeier forscht zu Arbeitsmarktthemen in Paris

Für Deutschland mag der Kita-Streik in Umfang und Länge etwas Besonderes sein, hier in Frankreich wäre es der ganz normale Schlagabtausch. Natürlich sind auch französische Eltern nicht froh, wenn sie sich eine Alternativbetreuung für ihr Kind suchen müssen, aber es würde keine Krise auslösen. In den écoles maternelles, dem französischen Gegenstück zu den deutschen Kitas, hat es im auslaufenden Schuljahr zwischen fünf und acht landesweite Streiks gegeben. Es geht dabei darum, Protest auszudrücken. Im Gegensatz zu Deutschland konkurriert eine Vielzahl von politisch ausgerichteten Gewerkschaften in einem Überbietungswettbewerb miteinander um ArbeitnehmerInnen und Aufmerksamkeit. Ein Streikaufruf dient als Möglichkeit, Kampfbereitschaft zu testen. In Deutschland ist dieser so genannte „politische Streik“ nicht möglich. Wenn es aber wie im Kita-Streik darum geht, konkrete Forderungen durchzusetzen, ist ein Streik, wie er gerade geschieht, wahrscheinlich sogar erfolgversprechender. Er richtet sich auf konkrete Ziele. In Frankreich werden die Stellenkürzungen nämlich weitergehen.