„Wir sind kein Überwachungsstaat“

Wie Jessica aus Jenfeld starb auch 2004 in Bergedorf ein Kind an den Folgen von Verwahrlosung. Bezirksamtsleiter appelliert, Behörden nicht zum Sündenbock zu machen. Sozialarbeiter erbost über Senatoren-Anwurf, sie arbeiteten „unwillig“

Von Kaija Kutter

Auch in Bergedorf ist im Sommer 2004 ein Kind vermutlich an den Folgen von Verwahrlosung gestorben. Dass die Eltern der dreijährigen Michelle mit ihren sechs Kindern überfordert waren, hatte das Amt für Soziale Dienste (ASD) bereits im Oktober 2003 erfahren und daraufhin eine Familienhilfe installiert. „Im Kern hat die Hilfe nicht funktioniert, weil die Mutter vorgegaukelt hat, es liefe alles bestens“, berichtet Bezirksamtsleiter Christoph Krupp. So habe sie der Helferin erzählt, wie gut sich die Kinder in der Kita einlebten – obwohl sie nicht dort waren.

Krupp appellierte gestern an die Öffentlichkeit, die Behörden infolge des schrecklichen Hungertodes der siebenjährigen Jessica aus Jenfeld nicht zum Sündenbock zu machen. „Wir leben nicht in einem Überwachungsstaat. Auch das Jugendamt ist darauf angewiesen, dass es Hinweise bekommt.“ Zudem sei es in erster Linie zum Helfen da.

Bemerkenswert ist, dass die Bergedorfer ASD-Abteilung des Jugendamtes im Januar 2004 einen Brief an Bürgermeister Ole von Beust (CDU) schrieb, in dem sie erklärte, sie wüsste infolge von Einsparungen nicht mehr, wie sie ihre Aufgabe verantwortlich erfüllen solle – „besonders in Fällen, in denen der ASD garantieren muss, dass Kinder und Jugendliche nicht schlecht behandelt werden.“ Damals kamen auf 10.000 Bergedorfer nur ein einziger Sozialpädagoge.

Inzwischen gebe es beim ASD Bergedorf zwei bis drei Mitarbeiter mehr, „aber in der Summe immer noch zu wenig Personal“, erklärt Krupp. Man könne dennoch nicht sagen, dass es einen direkten Zusammenhang vom Tod des Kindes zur ASD-Ausstattung gebe. Denn als das Amt von dem Fall erfahren hat, habe die zuständige Mitarbeiterin „alles andere stehen gelassen und sich nur noch darum gekümmert“. Man müsse, so Krupp, zur Kenntnis nehmen, dass es in dieser Stadt „ganz viele Kinder gibt, die in Verhältnissen leben, die wir so nicht akzeptieren wollen“. Die Schere zwischen Arm und Reich gehe weiter auseinander. Auch reiche regelmäßig das 9-Millionen Euro-Budget der Hilfen zur Erziehung nicht aus.

Unterdessen gibt es unter ASD-Mitarbeitern Verärgerung über jüngste Äußerungen von Justizsenator Roger Kusch (CDU). Dieser hatte als Reaktion auf den Tod von Jessica am Dienstag eine Projektgruppe „Informationelle Jugendhilfe“ angekündigt und dabei gefragt, ob nicht „mit dem Hinweis auf Datenschutz nur Unwilligkeit kaschiert wird“.

Mitarbeitern der Jugendämter ist es per Gesetz nur sehr eingeschränkt erlaubt, Sozialdaten weiterzugeben. Es gibt sogar Dienstanweisungen mit Fristen zur Aktenvernichtung. „Wer dagegen verstößt, kann sich strafbar machen, das hat der Gesetzgeber aus gutem Grund so geregelt“, so Detlef Malessa, beim Datenschutzamt für Jugendhilfe zuständig. Andererseits habe aber der bestehende Datenschutz im Fall Jessica Aufklärung nicht behindert. So sei es der Rebus-Abteilung der Schulbehörde erlaubt, Informationen mit Kitas, Ärzten, Jugendämtern und anderen Stellen auszutauschen.

Hamburgs Datenschutzbeauftragter Hartmut Lubomierski erwartet, dass er an der nun geplanten „Schüler-Zentraldatenbank“ beteiligt wird. Sollten hier nur Namen und Adressen gespeichert werde, gilt dies als unproblematisch. Etwas anderes wäre aber, wenn hier sensible Daten einflössen. Man müsse sich davor hüten zu denken, eine neue Datenbank sei „der Stein der Weisen“, warnt Malessa. Daten müssten ausgewertet werden. „Und dafür braucht man Mitarbeiter mit Zeit.“