Typisch Ukraine?

Unser Verhältnis zu den Ukrainern muss noch immer ohne verfestigte Vor- und Urteile auskommen. Kein guter Zustand – denn so bleibt die Ukraine ein weißer Fleck auf unserer inneren Landkarte

VON CHRISTIAN SEMLER

Bis weit in die deutsche Nachkriegszeit meinte „ukrainern“ umgangssprachlich etwas illegal zur Seite bringen Während die Ukraine heute orangenfarben erstrahlt, hat sich „ukrainern“ still aus unserem Sprachschatz verabschiedet. Allgemein gilt: Unser Verhältnis zu den Ukrainern muss noch ohne verfestigte Vor- und Urteile auskommen.

Diesem Zustand abzuhelfen, werden gegenwärtig große Anstrengungen seitens der Medien und der Politik unternommen. Ausgestattet mit erschlichenen Visen, hat sich, so die Botschaft, eine ukrainische ImmigrantInnenwelle über unser armes Vaterland ergossen. Zwangsprostitution, Schwarzarbeit und organisierte Kriminalität gelten als hauptsächliche ukrainische Exportprodukte. Gegen dieses Trommelfeuer will der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko anlässlich seines Deutschlandbesuches vorgehen und hat – als lebendigen Gegenbeweis – einen der Klitschko-Brüder im Tross.

Indes, so schnell geht es erfahrungsgemäß nicht mit der Bildung von Stereotypen, positiven wie negativen. Sie sollen schließlich eine Weile halten. Noch haben die Deutschen im Schnitt nur vage Vorstellungen darüber, wo die Ukraine eigentlich liegt und was deren Einwohner so treiben. Es fehlt an Material für Generalisierungen. Sind das nicht bei Licht besehen eine Art Russen, sodass die althergebrachten nationalen Stereotype über Russland (die Seele, der Suff, die Grausamkeit) einfach übertragbar sind?

Die deutschen Schöngeister erweisen sich wie zu erwarten nicht als sonderlich hilfreich. Wo dort über die Ukraine gehandelt wird, geht es fast ausschließlich um den westlichen Landesteil, also ums alte östliche Galizien, und das erstrahlt im milden Abendlicht der K.u.k.-Monarchie, als multikulturelle Heimstadt von Polen, Juden und Ukrainern. Ein Sehnsuchtsraum zwischen Lemberg (Lwów, Lwiv) und Czernowitz. Wer dagegen das Pech hat, in der östlichen Ukraine zu wohnen, kann von solchen Gefühlen nicht profitieren.

Auch von Polen können wir uns keine Stereotype hinsichtlich der Ukrainer ausborgen, denn die sind gerade dabei, ihre eigenen über Bord zu werfen. Lange Zeit galten hier die Ukrainer wegen der blutigen nationalen Auseinandersetzungen um Galizien als gewalttätig, als ungebildete Bauern, zudem als Hitler-Schergen. Mittlerweile hat sich hier ein Umschwung vollzogen. Die überkommenen nationalen Konflikte verlieren für stereotype Fremdbestimmungen laufend an Boden. Schon zu Zeiten des Realsozialismus hieß es bei den polnischen demokratischen Oppositionellen: Die Ukrainer sind wie wir, nur ein klein wenig vorsichtiger. Jetzt haben sie auch diese Vorsicht fallen gelassen, sodass in Polen die Ukraine-Euphorie herrscht.

Aber wie steht es mit den ukrainischen Schwarzarbeitern in Deutschland, können wir hier nicht auf einen mittlerweile mehrjährigen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der sich – wie im Fall der Polen – zur Stereotypenbildung eignet? Solchen Versuchen steht entgegen, dass die ukrainischen „Illegalen“ vorsichtig mit ihrer Selbstbezeichnung als Ukrainer sind. Dies trifft vor allem auf Ostdeutschland zu, wo sie als Polen firmieren. Erfreulicherweise gibt es eine Gesprächssammlung von ukrainischen Illegalen (abrufbar im Internet: „(Ill)legales (Un)glück. Die neue Generation der OstarbeiterInnen“). Aus diesen Gesprächen erfahren wir, dass ukrainischerseits die Stereotypenbildung sich im vollen Gang befindet. Auch sie rekurriert nicht mehr auf die Geschichte, weist aber die volle Skala der Tugenden und Untugenden auf, mit denen die Deutschen traditionellerweise bedacht werden – Gott sei Dank mit Ausnahme der Obrigkeitshörigkeit. Leider ist die Zahl der interviewten Deutschen so gering und wenig repräsentativ, dass daraus nichts Stereotypentaugliches ersichtlich wird.

Generell kann man sagen, dass wir uns von nationalen Stereotypen zu begründeten Urteilen hochhangeln, also deren Fehlen eher schädlich ist, weil die betreffende Nation als „weißer Fleck“ erscheint, der keinerlei Interesse hervorruft. Aber vielleicht kann dieses Mal der Weg abgekürzt werden. Durchs unmittelbare Kennenlernen.