City of Langsam

Spiel und Donut: Die Berlinische Galerie und die Galerie Wohnmaschine zeigen Arbeiten von Takehito Koganezawa, der sich mit Zeit als zufälligem Ordnungsprinzip beschäftigt. Ein Porträt

VON ANNETTE JAHN

Zwei breite farbige Linien schlängeln sich die Wand hinunter. Nähern, berühren und kreuzen sich, winden sich umeinander und entfernen sich wieder. Ein Tanz von zwei Formen im weißen Raum, der mal weiter, mal schmaler wird, aufgespannt in der Begegnung. „Sex without Sex“ heißt die Ausstellung von Videoarbeiten des jungen japanischen Künstlers Takehito Koganezawa in der Berlinischen Galerie. Gegenüber kämpfen vier junge Japaner paarweise miteinander, jedoch ohne viel Engagement. Sie packen sich lustlos am Hemdkragen, schlagen fast zärtlich nacheinander. Sex ohne Sex, Kampf ohne Kampf. Die Bedeutungen herauswaschen, das ist sein Ziel, sagt Koganezawa. Aus Dingen wie aus Handlungen. In seinem Kunstschaffen geht es ihm darum, Donuts herzustellen: Doch will er dabei nicht den Donut, sondern das Loch in seiner Mitte sichtbar machen – ohne den Donut ein Ding der Unmöglichkeit.

Was aber bleibt dann ohne die Bedeutung? Koganezawa lacht und zieht während des Gesprächs in der Galerie Wohnmaschine, die derzeit seine „Works on Paper“ zeigt, ein Stück Tesafilm von einem Pappkarton. „Man findet immer wieder neue Bedeutungen! Es ist wie mit diesem Klebestreifen: Wenn man ihn abreißt, denkt man, danach ist es sauber und still oder einfach normal – aber man findet alles mögliche darunter! Es gibt kein ‚normal‘, es gibt keine ‚sauberen‘ Dinge. Da ist immer etwas, immer!“ Belustigte Verzweiflung schwingt in seinen Worten mit. „Aber“, lenkt er ein, „ich mag es, damit zu spielen. Man findet immer etwas ganz Neues!“

Koganezawa ist ein Forschender, einer, der etwas sucht und dabei tausend andere Dinge findet. Und dann mit ihnen spielt. Am Anfang ist es immer das Material, das ihn interessiert. So, wie bei seinen neuen Arbeiten, den Collagen: Sie entstanden, als er bei seinem Umzug von Mitte nach Kreuzberg seine alten Geo-Magazine aussortiert hat. Aus dem Spiel mit Material wurden Selbstporträts: ein farbflächiges Spiel mit den eigenen Facetten und Varianten.

Was er aber sucht und was sich durch seine Arbeiten zieht wie ein roter Faden, ist die Zeit. Jeder Platz in einem Raum, jede Straße und jede Stadt hat ihre ganz eigene Zeitqualität; manchmal bildet sie Linien, erklärt er, fließt oder strömt, dann wieder ist sie körnig oder schlägt Blasen. Oft habe er vergeblich versucht, die Zeit als Ganzes zu fassen – was ihm jedoch immer wieder gelinge, sei, Momente miteinander zu verbinden. Auch dieses Dazwischen zeigt sich immer anders: Mal zieht es sich zäh wie Kaugummi, dann wieder bildet es Stufen oder Sprünge.

Seit 1999 lebt Takehito Koganezawa, 1974 in Tokio geboren und dort aufgewachsen, in Berlin. Sechs Jahre schon, die sich, wie er sagt, allerdings eher wie sechs Monate anfühlen. Damals bekam er ein Auslandsstipendium, wusste nicht, wohin, und fragte Friedrich Loock, den Galeristen der Wohnmaschine. Der holte ihn nach Berlin, in die „City of Langsam“, wie Koganezawa die Stadt nennt.

Berlin ist für ihn einzigartig, sagt er, mit vielen leeren, offenen Plätzen – im Stadtbild genauso wie in der Einstellung. „Man weiß nie genau, ob es gerade wächst oder ob es gerade kaputt gegangen ist, man weiß nicht, in welche Richtung die Bewegung geht. Da ist viel Platz zum Spielen.“ Doch auch die Zeitqualität sei hier sehr speziell: Während er andere Großstädte als sehr aktiv und sehr schnell wahrnehme, erscheint ihm Berlin als sehr aktiv, dabei aber ungemein langsam. Diese Kombination kennt er von keiner anderen Stadt.

Sein Spiel mit dem urbanen Raum besteht darin, „auf den Zeitlinien zu surfen“. Die muss man aber erst einmal wahrnehmen. Erleichtert wird ihm das dadurch, dass er nach sechs Jahren immer noch kein Deutsch spricht. „Ich bewege mich durch die Straßen wie ein Hund oder eine Katze. Die Unmenge an Informationen, die in einer immensen Geschwindigkeit auf der sprachlichen Ebene ausgetauscht wird, geht an mir vorbei – und doch bekomme ich genau mit, was passiert. Es ist ein Wechsel in der Wahrnehmung. Und auch ein Training, an elementareres Wissen zu kommen, an die Frage: Wie kann ich dieses Material benutzen?“ Wenn dieses „Timeline-Surfing“ gelingt, so Koganezawa, gelangt man an erstaunliche Orte, wo seltsame Dinge geschehen.

Doch im realen Leben bleiben solche Aktivitäten eine schwierige Angelegenheit. Leichter fällt ihm die Reise auf den Zeitwellen in seiner Kunst, vor allem in seinen Zeichnungen, die er in erster Linie für sich selbst macht. Dort wird das Surfen zu einer Suche nach einer anderen Welt. Nur eines stört: die Bedeutungen. Sie liegen im Weg wie Steine und Kisten. Womit wir wieder bei den Donuts wären. Wo der Donut sei? Er lacht: „Na, da überall!“ – und zeigt auf die hängenden Zeichnungen. Figuren, Gesichter, Tiere in Buntstift und Ölkreide – und immer wieder die Zeitstrukturen in Linien, Blasen, Wolken und tuffigem Etwas. Keine Frage, der Donut ist nur ein anderes Wort für sein Konzept von Sichtbarkeit.

Doch in der letzten Zeit hat sich sein Donut-Denken verändert und damit auch seine Kunst, meint Koganezawa. Denn er hat entdeckt, dass das Loch sich eigentlich in ihm selbst befindet: Seine Zeichnungen, seine Kunstwerke sind das Material, das er in diese Tiefen hineinwirft, um so die Dunkelheit auszuloten.

„Meine Erklärungen sind immer die totalen Nicht-Erklärungen“, schmunzelt er. „Ich habe meine eigene Logik, aber sie ist nicht sprachlich zu fassen.“ Und erzählt zu guter Letzt die japanische Geschichte von dem jungen Mann, der sich in die Dienste eines magischen Meisters begibt und jahrelang für ihr arbeitet. Als dieser ihm schließlich sagt, er selbst sei der Meister, er, der Alte, nur ein einfacher alter Mann, stürzt er sich vor Zweifel von einer Klippe.

Im Moment des Aufpralls aber verwandelt er sich in einen Vogel und fliegt davon. „So ist das auch in meinen Ausstellungen, glaube ich“, sagt Koganezawa abschließend. „Die Leute, die sich meine Kunst anschauen, sind die Magier. Ich bin nur ein normaler Mann.“

Takehito Koganezawa: „Sex without Sex“, bis 24. 4, Berlinische Galerie, Alte Jakobstraße 124. Außerdem: „Works on Paper“, bis 9. 4., Galerie Wohnmaschine, Tucholskystraße 35