„Mein Vater war für mich unschuldig“

Ursprünglich hatte Beate Niemann ihren Vater Bruno Sattler rehabilitieren wollen – doch statt ein vermeintliches DDR-Unrecht aufzudecken fand sie heraus, dass ihr Vater ein NS-Massenmörder war. Ein Gespräch über die schmerzhafte Suche nach der Wahrheit

INTERVIEW VON MARTIN JANDER

Beate Niemann, geboren 1942 in Berlin, 1962–1963 Ausbildung zur Auslandskorrespondentin, Arbeit bei amnesty international und als freie Vollzugshelferin in der Strafanstalt Berlin-Tegel. Berufliche Tätigkeiten beim Diakonischen Werk und der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Schlachtensee.

Beate Niemanns Vater war Bruno Sattler, der während des Nationalsozialismus als Angehöriger der Gestapo für die Ermordung zehntausender Menschen verantwortlich war. In der Familie wurde hierüber nie gesprochen. Lange Zeit hat Beate Niemann versucht, ihren seit 1947 in der DDR inhaftierten Vater frei zu bekommen und nach seinem Tod zu rehabilitieren. Seit der Öffnung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit begann sie, genauer nachzuforschen: Warum war der Vater nie von der Bundesrepublik freigekauft worden? Die ganze Wahrheit zu akzeptieren, war ein langer Prozess. Inzwischen hat Beate Niemann die Verbrechen ihres Vaters minutiös erforscht und dokumentiert. Im Verlag Hentrich & Hentrich soll in diesem Jahr Beate Niemanns Buch erscheinen, „Der gute Vater. Bruno Sattler. Mein Leben mit seiner Vergangenheit“.

taz.magazin: Frau Niemann, haben Sie noch Erinnerungen an Ihren Vater?

Beate Niemann: Als Kind habe ich ihn eigentlich ausschließlich aus Erzählungen kennen gelernt. Ich wurde 1942 in Berlin geboren, in diesem Jahr leitete mein Vater gerade in Belgrad den Mord an etwa 8.500 Frauen und Kindern in Gaswagen. Später, in den 60er-, 70er-Jahren, sah ich ihn auch bei drei bis vier halbstündigen Besuchen in DDR-Zuchthäusern, wo er seit 1947 inhaftiert war.

Konnten Sie bei den kurzen Besuchen überhaupt eine emotionale Beziehung zu Ihrem Vater aufbauen?

Das kann man in der kurzen Zeit gar nicht zulassen. Schon gar nicht, wenn drei Stasi-Offiziere mit am Tisch sitzen, die jede Regung beobachten. Da kann man überhaupt nichts zulassen. Das kann man erst später zu Hause, wenn man der Familie Bericht erstattet hatte und sich in sein Zimmer verzog.

Was für ein Bild von Ihrem Vater wurde Ihnen als Kind denn präsentiert?

Es hieß, dass er sehr charmant, sehr fröhlich und liebenswürdig gewesen ist. Aufgrund dieser Liebenswürdigkeit hat er angeblich seine Cousinen immer dazu gebracht, ihn zu bedienen. Dann gibt es da noch den aufopferungsvollen Sohn. Mein Vater hat sich um seine Mutter gekümmert und sein Studium abgebrochen, als sie in Not geriet. Das haben seine beiden Brüder nicht getan.

Gab es in seiner Familie eine Affinität zum Nationalsozialismus?

Es hat ihn niemand gezwungen, schon 1931 in die NSDAP einzutreten. Seine Eltern dachten deutsch-national, waren sehr streng und der Zeitgeist war antisemitisch. Er ist in diesem Geist aufgewachsen, hat ihn bis zum Schluss vertreten und bis in die mörderischen Aktionen hinein umgesetzt. In all den Unterlagen, die ich in der Stasi-Behörde gefunden habe, fand ich keinen einzigen Satz, dass ihm die Verbrechen, die er begangen hat, Leid taten.

Wie kommt es überhaupt, dass Sie sich so stark mit dieser Geschichte beschäftigen? Um es einfach zu sagen, Sie selbst haben diese Verbrechen ja nicht begangen. Das war Ihr Vater.

Ich will es aber wissen. Worunter ich offenbar gelitten habe, ist diese Verlogenheit in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Was mich besonders ärgert, ist, dass wir 68er als Feigenblatt gelten. Es wird behauptet, dass man in der Zeit über die Väter aufgeklärt und gefragt hat. Ich kenne aus meiner Gruppe der 68er niemanden, der über seinen Vater geforscht oder seinen Vater gefragt hat. Diese ganze Verdruckstheit hat mich immer belastet.

Wie kam es, dass Sie schließlich doch nach der Wahrheit forschten?

Als ich mit meinem Mann nach längerem Auslandsaufenthalt 1992 aus Indien zurück kam, war die DDR untergegangen und die Archive waren offen. Damals stellte ich den Antrag, die Stasi-Unterlagen einzusehen. Ich wollte herausfinden, warum mein Vater niemals von der Bundesrepublik freigekauft werden konnte. Ich habe noch 1991 einen Rehabilitierungsantrag an die Staatsanwaltschaft Schwerin geschickt. Ich hielt meinen Vater ja zunächst noch für unschuldig. Inzwischen kann ich mich dafür nur schämen. Ich bin sehr dankbar und froh, dass er abgelehnt wurde, wenn ich auch damals die Begründung nicht verstanden habe und mich dagegen heftig gewehrt habe. Plötzlich wurden Urteile der DDR als rechtsstaatlich dargestellt. Das sind sie in meinen Augen bis heute nicht. Als sich im Laufe meiner Recherche Dinge herausstellten, die ich nicht vermutet hatte, wollte ich erst recht alles wissen.

Was haben Sie seither über Ihren Vater herausgefunden?

Mein Vater ist nach dem Ersten Weltkrieg zum Freikorps Brigade Ehrhardt gekommen, das am Kapp-Putsch beteiligt war. Dann hat er noch sechs Semester studiert, Botanik und Nationalökonomie. Das Studium musste er nach dem Tod seines Vaters abbrechen, weil er seine Mutter ernähren musste. Er war dann Verkäufer bei Wertheim in der Uhren- oder Silberabteilung und hat sich immer aufgeregt, dass er in einem jüdischen Kaufhaus arbeitete. 1927 ist er von einem Freikorps-Kameraden angesprochen worden: „Komm doch zu mir in die Polizei.“ Er ist 1928 in die Berliner Polizei eingetreten, hat eine Kommissariatsausbildung durchlaufen und gehörte danach zur Politischen Polizei. 1931 trat er in die NSDAP ein. 1933 wurden sie gefragt, ob sie in die normale Kriminalpolizei wollten oder in die Gestapo. Er wollte in die Gestapo.

Was war sein Aufgabenbereich?

Bekämpfung des Kommunismus. 1934 wurde er Referatsleiter für Sozialdemokratie und sozialdemokratische Gewerkschaften. Nach der Besetzung Belgiens war er in Brüssel und hat dort die Akten der 2. Internationale sichergestellt. Später kam er zum so genannten Vorkommando Moskau nach Smolensk, das der Einsatzgruppe B angeschlossen war, und schließlich nach Belgrad, wo er Chef der Gestapo wurde. Er hat die Gestapo-Dienststelle im Oktober 1944 aufgelöst und ging nach Wien, für eine „ungarische Rückführungsaktion“, die mir bislang kein Wissenschaftler oder Historiker genau erklären konnte.

Welche Verbrechen waren mit diesen Stationen verbunden?

Das erste Verbrechen ist 1934 die Ermordung von John Schehr und dreier seiner Genossen – angeblich „auf der Flucht erschossen“ – auf der Königstraße in Berlin-Wannsee. Es waren Schüsse in den Rücken. Die Verbrechen des Vorkommandos Moskau sind ausgewiesen in den geheimen Protokollen der Einsatzgruppen. Auch seine Verbrechen in Jugoslawien sind dokumentiert. Noch nicht greifbar ist für mich die Sonderaktion „Ungarische Rückführung“. Gesichert scheint nur zu sein, dass er dabei auch mit der Ermordung der ungarischen Juden zu tun hatte.

Wissen Sie, wie viele Menschen Ihr Vater getötet hat?

Aus der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Ludwigsburg weiß ich, dass die Zahlen des Vorkommandos Moskau zum Teil erhalten sind: über 10.000 Tote. In Belgrad steht er für den Gaswageneinsatz, bei dem in einer sechswöchigen Aktion bis zu 8.500 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, umgebracht worden sind. Ich selber habe außerdem Erschießungsanordnungen in den Archiven in Belgrad gefunden. Das sind hunderte. Er stand dort auch für Geiselerschießungen und für die so genannte „Partisanenbekämpfung“. Er hat die Menschen nach Auschwitz geschickt, er hat sie zu Arbeitseinsätzen, die ja auch einer Vernichtung gleichkamen, bis nach Norwegen geschickt. Ich denke, es sind zehntausende. Und er hat bei drei Aktionen selber mitgeschossen.

Sie sind an einigen der Schauplätze gewesen.

Ich war im September 2001 in Belgrad. Ich war die erste Privatperson, die in den Belgrader Archiven arbeiten durfte. Ich habe auch Überlebende der Verbrechen meines Vaters getroffen. Ich habe mich gefragt: Warum tut sich unter mir nicht die Erde auf? Wie ist es möglich, durch eine Stadt zu gehen, in der mein Vater tausende von Menschen umgebracht hat, die er nie gesehen hat, die er nicht kannte, zu denen er keine Verbindung hatte, einfach nur, weil sie zum Beispiel einen anderen Glauben hatten? Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass ich es aushalten würde, Überlebende zu treffen.

Die Mehrzahl der Opfer Ihres Vaters waren Juden?

Juden, Zigeuner, Sinti oder Roma, so genannte Asoziale, ganz normale Bürger, die auf den Straßen von Belgrad und in Serbien gefangen genommen wurden. Das waren Vergeltungsmaßnahmen für Überfälle auf deutsche Soldaten. Das Maß war: ein deutscher Soldat, hundert serbische Geiseln. Und wenn mein Vater in seinen Lagern, in Belgrad und Umgebung, nicht genügend Geiseln hatte, hat er sich nach Kroatien gewandt an den dortigen deutschen Gesandten und hat dort mal eben 1.200 Leute zum Erschießen angefordert.

Als Sie nach Belgrad fuhren, haben Sie mit der ganzen Wahrheit über Ihren Vater noch nicht gerechnet?

Als ich nach Belgrad fuhr, wusste ich das meiste schon. Ich habe im Januar 1997 angefangen, in den Stasi-Unterlagen zu lesen. Die Anklagepunkte, die da gegen meinen Vater genannt wurden – nämlich „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, begangen in Jugoslawien – waren in meinen Augen durch die bundesrepublikanische Gesetzgebung und Prozesse längst widerlegt. 1998 habe ich allerdings das Buch „Serbien ist judenfrei“ von Walter Manoschek gefunden. Darin war der Gaswageneinsatz und die Verantwortung meines Vaters für ihn explizit erwähnt. Ich habe mich mit dem Autor in Verbindung gesetzt und den Antrag gestellt, nach Jugoslawien reisen zu dürfen. Nach dem Nato-Bombardement konnte ich dann fahren.

Haben Sie dort auch versucht, mit überlebenden Opfern der Verbrechen Ihres Vaters in Kontakt zu treten?

In Belgrad habe ich die einzige Überlebende des Gaswageneinsatzes getroffen, Liliane Djordjevic, die zur Zeit des Einsatzes dreizehn Jahre alt gewesen ist. Sie war mit ihrer christlichen Mutter aus der Schweiz inhaftiert. Ihr Vater war in diesem Lager Semlin bei Belgrad Lagerarzt. Er wurde auf den allerletzten Gaswagentransport geschickt und umgebracht. Sie und ihre Mutter wurden eigentlich vergessen. Es waren noch zwei nichtserbische Frauen und ein Kind da, die haben einfach in den letzten Gaswagen nicht hineingepasst. Liliane Djordjevic wusste von mir und wir haben uns auf diesem Gelände getroffen. Nur durch die Freundlichkeit, mit der sie auf mich zukam und mir die Hand gab und ein perfektes Deutsch sprach, war es überhaupt möglich, dass ich mich so weit in den Griff bekam, mit ihr sprechen zu können. Das war für uns beide zuerst schwierig, aber wir haben uns tagelang immer wieder getroffen. Wir stehen noch heute miteinander in Verbindung.

Sie sind aber auch auf Opfer gestoßen, die ganz in Ihrer Nähe lebten.

Ja, da gab es Frau Leon. Ich wusste mein Leben lang, dass mein Geburtshaus in der Manfred-von-Richthofen-Straße in Berlin-Tempelhof einer Frau Leon gehört hat, einer jüdischen Dame. Die Erzählung meiner Mutter ging so, dass sie, als sie mit mir im achten Monat schwanger war, Frau Leon über die Schweizer Grenze in Sicherheit gebracht habe. Dieses Haus ist uns am Anfang der 50er-Jahre – das wusste ich auch – in einem Rückerstattungsantrag weggenommen und an Erben der Familie Leon zurückgegeben worden. Das wurde in der Familie immer als große Ungerechtigkeit dargestellt, denn letztendlich hatten meine Eltern das Haus korrekt bezahlt und meine Mutter hatte ja Frau Leon – so glaubte ich – das Leben gerettet.

Ihre Mutter hat also nicht nur über Ihren Vater die Wahrheit verschwiegen?

Ja. Das fand ich durch Zufall heraus, als ich in alten Familiendokumenten eine Karte entdeckte, von der ich jahrzehntelang nicht bemerkt hatte, dass es auf der Rückseite eine handschriftliche Notiz meiner Mutter gibt. Drei Tage nach meiner Geburt hat sie die Karte geschrieben, an meinen Vater nach Belgrad. Sie schreibt über meine Geburt, über meine Entwicklung in diesen drei Tagen und über das Haus. Der vorletzte Satz lautet: „Am 20. 6. kommt die Leon auf Transport nach dem Osten.“ Da habe ich erst mal einige Tage gebraucht, um das auszuhalten, und habe dann angefangen, zu recherchieren. Zunächst auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee, dann im Centrum Judaikum, im Jüdischen Museum in Berlin – das schon die Totenlisten von Theresienstadt hatte – und zum Schluss war ich im Amt für Wiedergutmachung.

Was haben Sie herausgefunden?

Herr Leon hat ab 1937 meinen Eltern das Haus zum Kauf angeboten. Meine Eltern haben aber abgelehnt. Im Frühjahr 1942 gingen die Kaufverhandlungen mit der inzwischen verwitweten Frau Leon weiter. Mein Vater hat Frau Leon eine Bestätigung gegeben, dass sie für ein Jahr von der Deportation zurückgestellt wird. Deshalb unterschrieb sie den Kaufvertrag, wurde aber schon vierzehn Tage später zur Gestapo bestellt und gleich dabehalten. Sie ist nach Theresienstadt transportiert und 1944 in Auschwitz ermordet worden. Über den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee wusste ich, dass es Angehörige gibt, die sich um das Familiengrab kümmern. Die Friedhofsverwaltung hat einen Brief von mir an die Enkel nach London weitergeleitet. Auf diesen Brief bekam ich nach zwei Monaten eine Antwort, die mich so erschüttert hat, dass ich Monate brauchte, um darüber hinwegzukommen. Dann habe ich aber doch noch mal geschrieben.

Diesmal mit positiverer Reaktion?

Ja. Ich hatte gesagt, ich würde ihnen gerne alles Material, was ich habe, zur Verfügung stellen. Ich habe der Familie geschrieben, dass es einen Film über meine Recherche gibt und er auch mit englischen Untertiteln gezeigt wird. Sie haben diesen Film gesehen und mich danach zu sich nach London eingeladen. Da war ich im März vergangenen Jahres zu einem Dinner in der Familie. Es waren auch befreundete Paare dabei. Ich glaube, es waren die intensivsten Stunden meines Lebens. Ich traf dort mit dem direkten Enkel der Frau Leon zusammen, die meine Eltern zuerst getäuscht und dann haben ermorden lassen, um sich in den Besitz ihres Hauses zu bringen.

Nach dem Krieg ist Ihr Vater inhaftiert worden. Wie ging das vor sich?

Mein Vater ist offenbar nach Ende des Krieges über Linz nach Deutschland gekommen, hat sich anderthalb Jahre versteckt gehalten und ist im Frühsommer 1947 nach West-Berlin gekommen und hat sich immer wieder mit meiner Mutter getroffen. Zweimal war ich auch dabei, meiner Erinnerung nach. Sie stand unter Beobachtung der Abteilung K5, einer Ost-Berliner Behörde, und unter Beobachtung der Amerikaner. Mein Vater ist am 11. August 1947 aus West-Berlin verschleppt worden. Es war eine Gruppe sowjetischer Soldaten, mit dabei war Erich Mielke. Mein Vater verschwand und ist 1949 entnazifiziert und für tot erklärt worden. Meine Mutter hat eine Witwenpension bekommen, wir Kinder haben die Halbwaisenrente bekommen. Dass mein Vater lebt, haben wir erst zufällig 1953 erfahren. Außerdem hörten wir, dass er 1952 in einem Geheimprozess in Greifswald zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war.

Wie lautete die Anklage?

Das Urteil in Greifswald sagt: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen in Jugoslawien, aufgrund eigener Angaben“. Sie hatten nichts gegen ihn in der Hand, sondern er hat seine Tätigkeit in Belgrad beschrieben. Den Gaswageneinsatz hat er verneint. Er habe nur davon gewusst. Die meisten hätten ja davon gewusst. Aber er hatte angeblich damit nichts zu tun. Man hat ihm direkt nichts nachweisen können. Sie haben ihm seine Tätigkeit als Gestapo-Mann von vor dem Krieg vorgehalten, dass er aufgrund seiner Tätigkeit in der Gestapo und seines Spitzelsystems die Arbeit der KPD zum Erliegen gebracht hat und auch die Tätigkeit der SPD. Aber eigentlich war es nicht das, was sie wollten. Es sollte 1950 ein Schauprozess gegen ihn veranstaltet werden. Die Unterlagen habe ich zufällig im Bundesarchiv gefunden. Dieser Schauprozess hat nie stattgefunden, stattdessen gab es einen Geheimprozess. Das Ganze ist in unseren Augen immer – und das hat sich auch beim Lesen der Akten bestätigt – eine Abrechnung zwischen Mielke und meinem Vater gewesen.

Wie lange saß Ihr Vater in der DDR im Gefängnis?

25 Jahre, bis zu seinem Tod. Ich habe ihn drei oder vier Mal gesehen, weil man nach den damaligen DDR-Gesetzen ab sechzehn Jahren in Zuchthäusern Besuche machen durfte. Die Besuche waren erfüllt mit Angst. Es ging ja darum, den Weg ins Gefängnis überhaupt zu schaffen. Dann kam die Leibesvisitation und dann saß man mit drei oder vier Stasi-Offizieren an einem Tisch. Dann kam ein Mann herein, von dem gesagt wurde: „Das ist Ihr Vater.“ Meine Mutter hat uns immer eine DIN-A4-Seite mit Fragen notiert, das reichte grade für 25 Minuten. Dann kam immer die Stimme: „Noch fünf Minuten!“ Dann war er auch schon wieder weg. Das einzige Bild, das sich mir eingeprägt hat, ist ein gebeugter, großer Mensch, kahl geschoren, in Anstaltskleidung mit den Streifen auf den Armen. Das ist mein Vater gewesen.

Wenn ich richtig informiert bin, haben Sie später auch ehemalige Kollegen Ihres Vaters kennen gelernt.

Ich weiß heute, dass ich einige kennen gelernt habe, denn meine Mutter hat, etwa ab 1949, als Geschäftsführerin einen Polizeibeamtenverband, den Schrader-Verband geleitet, der später im Bund Deutscher Polizeibeamten aufgegangen ist. Wie ich erst seit ein paar Wochen weiß, gehörten zwei Männer dem Verbandsvorstand an, von denen der eine einer Einsatzgruppe (auch in der Nähe von Smolensk) angehörte und der andere ein Einsatzkommando in Riga führte. Aber ich habe natürlich auch andere kennen gelernt, die nicht in Berlin lebten. Der eine wurde Ministerpräsident des Landes Niedersachsen, der andere leitete die niedersächsische Polizei, wieder ein anderer die Polizei des Landkreises Hameln-Pyrmont. Meine Mutter wurde da immer mit Kusshand begrüßt. Meine erste Schokolade zum Beispiel bekam ich von Rudolph Diels und Walter Zirpins.

Was war Ihr Eindruck, als Sie diese Männer damals kennen lernten?

Ich fühlte mich immer bestraft. Mein unschuldiger Vater sitzt im Knast und die hier sind Ministerpräsidenten, sind Männer der Wirtschaft, sind Bundesjustizminister, Landesjustizminister. Sie schreiben rührende Briefe an meine Mutter – und wir …?

Wie hat Ihre Familie darauf reagiert, als Sie begannen, sich mit der Geschichte Ihres Vaters intensiv auseinander zu setzen?

Meine Mutter ist 1984 gestorben. Ich hatte die letzten sechs Jahre vor ihrem Tod keine Verbindung mehr zu ihr, aus privaten Gründen. Was meine Mutter nie ausgehalten hat, waren eigentlich schon meine Fragen. Man musste in der Schule ja immer den Beruf des Vaters angeben. Mein Vater war Regierungs- und Kriminaldirektor oder dann Regierungs- und Kriminalrat. Das war ja nun ziemlich hoch angesiedelt. Ich war sehr stolz darauf. Irgendwann ging mir dann aber auf, dass er in dieser Funktion doch etwas gewusst haben muss. Schon diese Frage war in meiner Familie absolut unanständig, und ich habe mich gefügt. Ich habe auch als Angehörige der so genannten 68er-Generation nicht gefragt. Die Reaktionen meiner Schwestern kenne ich nur aus zweiter Hand. Sie sind offenbar schockiert und schweigen. Mein 1994 verstorbener Mann hat mich sehr unterstützt. Meine Kinder sind stolz auf mich, wie sie sagen. Auch mein Freundeskreis hat sich stark verändert. Ich habe mich von einem großen Teil meiner Freunde getrennt, weil es sie einfach nicht interessiert, was ich mache. Aber ich lerne auch immer wieder neue Menschen kennen.

Fühlen Sie sich wegen der Taten Ihres Vaters schuldig?

Einmal denkt man ja immer, man ist ein Teil seiner Eltern. Natürlich stehe ich mit meinem Mädchennamen für das, was mein Vater getan hat. Wobei ich mich aber nie schuldig gefühlt habe, nie. Aber ich fühle mich schuldig, was in unser aller Namen mit den Opfern, mit den Überlebenden und auch mit den Toten nach Ende des Krieges passiert ist. Dass man sie negiert hat, totgeschwiegen hat, dass man ihnen Pfennige von Entschädigung hingeworfen hat oder oft nicht einmal das. Daran fühle ich mich mitschuldig. Das lasse ich für mich nicht mehr zu. Es geht mir darum, ein Beispiel zu schaffen dafür, dass man es auch anders machen kann, dass man an einer solchen Aufarbeitung nicht zerbricht, dass man im Gegenteil sogar stärker wird, wenn man sich stellt. Mein Vater war ja nur ein „No-Name“ in der Nazi-Hierarchie. Aber es müssen ja hunderttausende gewesen sein. Es müssen hunderttausende dieser Familien existieren. Mir ist von anderen Überlebenden, die nicht direkt mit meinem Vater zu tun haben, gesagt worden: „Sie geben mir mein Leben wieder, indem Sie so über die Verbrechen Ihres Vaters sprechen.“ Das zeigt doch, wie wichtig es ist, dass wir uns stellen und dass wir es auch öffentlich machen.

Im Erinnerungsjahr 2005 erscheinen viele Bücher über die Naziverstrickungen der Vätergeneration. War es leicht für Sie, einen Verlag für Ihr Buch zu finden?

Im Gegenteil. Ich habe durch verschiedene Gespräche mit Verlagen und Lektoren ein bisschen Einblick in das deutsche Verlagswesen bekommen und ich muss sagen, manchmal hat es mich geschüttelt. Wenn mir eine junge Lektorin sagt: „Na, warum wollen Sie eigentlich Ihre Familie ärgern?“, dann verstehe ich gar nicht mehr, warum sie das Manuskript überhaupt gelesen hat. Oder es hieß: „Wir machen das schon, wir schreiben das Buch.“ Ich wollte aber bewusst keine Romanform für mein Buch. Wenn ich die Ergebnisse in Form dieser Töchter-Väter- oder Töchter-Mütter-Bücher lese, dann bin ich nur entsetzt. In diese Reihe möchte ich nicht.

Haben Sie den Eindruck, Ihr Desillusionierungsprozess gegenüber Ihrem Vater ist heute abgeschlossen?

Ich habe in den Jahren gemerkt, dass ich mir immer noch geschützte Bereiche gelassen habe, an die ich nicht herangegangen bin. Ein Beispiel: Ich schreibe mein Leben lang mit dem Füllfederhalter meines Vaters. Vor ein paar Wochen erst wurde mir klar, dass das unter Umständen der Stift war, mit dem er seine Mordurteile unterschrieben hat. Es gibt immer wieder Sperren, an die ich nie herangegangen bin. Aber ich habe auch schon eine Menge abgebaut.

Am 23. März wird in Berlin, in der Freien Schule für Erwachsenenbildung im Mehringhof, Yoash Tataris Dokumentarfilm über Beate Niemanns Recherche gezeigt.MARTIN JANDER, geboren 1955, ist Historiker und Journalist und lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Berlin (DDR) – Ein politischer Stadtspaziergang“, Christoph Links Verlag, Berlin 2003, 129 S., 12,90 Euro. Sein Interview drucken wir in einer gekürzten Fassung