„Das war eine Schule der Demokratie“

AUFSTANDSFORSCHUNG Seit langem verfolgt der Soziologe Amir Sheikhzadegan den politischen Diskurs im Iran. Ein Gespräch über die „grüne“ Protestbewegung, die Rolle der Frauen und den Kampf um den Begriff der Nation

■ gebürtiger Teheraner, studierte Soziologie und Ethnologie an der Universität Teheran, bevor er 1986 in die Schweiz ging. In Zürich promovierte er mit einer vergleichenden Arbeit über die Machtergreifung des politischen Islam in Iran und Algerien. Heute lehrt er dort am Soziologischen Institut der Universität und verfolgt in einer Langzeitanalyse den sozialen Wandel und politischen Diskurs im Iran. Sheikhzadegan ist es gelungen, sich durch institutionelle Kontakte und regelmäßige Feldforschung einen teilnehmenden Beobachtungszugang zur gesellschaftlichen Realität seiner Heimat zu bewahren.

INTERVIEW ALESSANDRO TOPA

taz: Wie haben Sie die letzten Wochen erlebt, Herr Sheikhzadegan?Amir Sheikhzadegan: Ich bin sehr unruhig. Es war eine Mischung aus Hoffnung, Freude, Trauer und Angst. Nun hat die Phase der Geständnisse begonnen: Inhaftierte Journalisten, Politiker und Demonstranten werden gezwungen, auszusagen, im Auftrag des Auslands auf eine samtene Revolution hingewirkt zu haben. So externalisiert man das Problem. Das unschuldige Volk wurde vom Feind in die Irre geführt, lautet die Botschaft.

In Europa war man überrascht über die Stärke der Proteste. Wie kam es zu diesem demokratischen Bewusstsein und Willen, der sich hier Ausdruck verschafft? Wichtig ist die historische Entkopplung von Antiimperialismus und Kampf für die Demokratie. In der Ideologie der Revolutionäre waren das zwei untrennbare Anliegen. Selbst unter Mossadegh, dem wohl liberalsten iranischen Führer des 20. Jahrhunderts, gab es einen starken antiimperialistischen Impetus. Mit der politischen Öffnung unter Chatami konnte man jedoch sehen, dass die Bevölkerung kein Interesse mehr am Antiimperialismus hatte.

Weshalb? Weil der Iran nicht mehr abhängig von den USA oder irgendeiner anderen Großmacht war. Inzwischen hat sich die Demokratiebewegung vollständig vom Antiimperialismus emanzipiert.

Welche weiteren Formen des Wandels sind grundlegend, um die aktuelle Entwicklung besser zu verstehen? Vor und nach der Revolution wurde die Demokratiebewegung von nationalliberalen Politikern, Intellektuellen und Geistlichen wie Mehdi Bazargan, Ali Shariati und Ajatollah Taleghani angeführt. Auch Chatami ist als Führer ein typischer Intellektueller gewesen. Was wir jetzt sehen, ist hingegen eine dezentrale Graswurzelbewegung. Die beginnt nicht mit Kant und Voltaire, sondern mit dem Alltag. Man sagt: Es wäre ein Schritt zur Demokratie, wenn meine Stimme zählte. Es wäre ein wichtiger Schritt, wenn ich mich äußern könnte, ohne Repressionen zu erleiden. Früher hat man philosophische Debatten über die Verfassung, die Gewaltenteilung oder die Rolle des Parlaments geführt, was für viele Menschen in Iran letztlich abstrakte Dinge sind.

Das hatte die Frauenbewegung mit ihrer 1-Millionen-Unterschriften-Kampagne bereits vorgemacht, oder? Die Demokratiebewegung war bislang ein urbanes Phänomen, getragen von der oberen Mittelschicht und Intellektuellen, einschließlich mancher Basaris. Heute jedoch diskutiert man über Bürgerrechte auch in den Dörfern. Ich höre immer wieder Kollegen, die im Süden oder Osten des Landes studieren oder lehren. Alle klagen sie über die mangelnden Bürgerrechte.

Wie sehr haben die Erfahrungen der Reformbewegung, die 1997 um Chatami entstand, die aktuelle Protestbewegung beeinflußt?

Unter Chatami entstand eine dynamische Pressevielfalt. Diese diente als Plattform für eine breite Diskussion zivilgesellschaftlicher Fragen: von der Kritik juristischer Willkür über die Rezeption anspruchsvoller Theorien der Demokratie bis hin zu Reflexionen über die gesellschaftliche Rolle der Kunst. Dies hat das politische Bewusstsein der Iraner sensibilisiert. Und man begann aufmerksam zu beobachten, wie das Regime mit der politischen Öffnung umgeht. Man hat Unterdrückungsmaßnahmen aufgedeckt und studiert. Das Volk hat etwa anlässlich der „Kettenmorde“ an Intellektuellen oder bei dem Schauprozess gegen den Teheraner Bürgermeister Karbastschi hinter die religiöse Fassade des Systems geblickt. Das hat die politische Umsicht der Bevölkerung geprägt, es war wie eine Schule der Demokratisierung!

Für die heutige Protestbewegung, meinen Sie?

Ja. Das Vorgehen der Bewegung um Mussawi und Karrubi zieht die Lehren aus den Erfahrungen der ersten Reformbewegung: Da ist die Friedlichkeit der Demonstrationen, die Betonung islamischer Überzeugungen, etwa mit den „Allahu akbar“-Rufen. Sie stellen realistische, geradezu bescheidene Forderungen, die sich im Einklang mit dem Gesetz befinden. Zudem hat man aus der Geschichte der irakischen und afghanischen Nation gelernt. Man hat gesehen, wie gefährlich Machtvakuen und Regimeumstürze sind.

Sie sehen also eine starke Kontinuität von alter zu neuer Bewegung? Das ist dieselbe Bewegung, bloß realistischer und versierter. Es sind keine neuen Themen hinzugekommen, aber man formuliert sie klarer und verständlicher.

Welche weiteren Aspekte sind für sie aktuell bemerkenswert?

Die Rolle der Frauen! Die Islamisten haben die Iranerinnen ausgenützt, um zur Macht zu gelangen. Diese kämpfen seit dreißig Jahren unermüdlich um ihre Besserstellung, die sie sich ursprünglich von der Revolution erhofften. Heute haben wir gemäß der Zensuszahlen von 2007 immerhin 52 Prozent weibliche Studierende; Frauen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen aktiv, sogar im Parlament und in führenden Positionen der Wirtschaft. Das ist langfristig ein hochsignifikanter Trend, zumal ja auch innerhalb religiöser Kreise ein „islamischer Feminismus“ entstanden ist.

Bei den Schweigemärschen in Teheran konnte man auch verschleierte Frauen sehen. Menschen aus allen Schichten und Altersklassen nahmen teil. Wie beurteilen sie das? Das war ein nationaler Aufstand. Ich glaube auch nicht, dass die unteren Schichten und die Leute auf dem Land vorwiegend für Ahmadinedschad sind. Ich stamme aus dem Süden Teherans und weiß, dass es in allen Schichten Anhänger Mussawis gibt. Man möchte einen Wandel hin zu größerer politischer Partizipation – das ist ein breiter gesellschaftlicher Konsens.

Was ist nun zu erwarten? Etwa ein Comeback des kritischen und oppositionellen Klerus um die Ajatollahs Montazeri oder Sanei? Es gibt zu viele Variablen, um vorauszusagen, was geschehen wird. Aber ich glaube nicht, dass wir ein Comeback des Klerus sehen werden. Das schiitische Taqlid-System, gemäß dem jeder Gläubige in seinem Handeln einem Großajatollah als „Quelle der Nachahmung“ folgt, spielt nicht mehr die Rolle wie einst. Die Geistlichen entwickeln sich im Iran heute von spirituellen Führern hin zu Islamwissenschaftlern. Der Klerus hat allerdings genug Einfluss, um der zunehmenden Militarisierung der politischen Strukturen entgegenzuwirken.

Um die Machtkonstellation in Iran zu modellieren, hört man oft vom Kampf zweier ökonomischer Systeme. Da seien zum einen die Revolutionswächter, die große Teile der Importe kontrollieren, mit Konzernen wie Khatam al-Anbia Wirtschaftsimperien errichten und deren Gesicht Ahmadinedschad ist. Und zum anderen sei da die alte Verbindung zwischen Klerus und Basar-Ökonomie, deren Gallionsfigur der Pistazien-Milliardär und Vorsitzende des Expertenrats Haschemi Rafsandschani ist. Glauben Sie, dass im Iran ein interner Wirtschaftskrieg tobt? Das wäre viel zu pauschal geurteilt. Ahmadinedschad hat auch im Basar wichtige Akteure auf seiner Seite, wo er von der Hejat-e Mo’taleffe, einer Nachfolgeorganisation der radikalislamischen Fedajan-e Eslam, unterstützt wird. Diese Gruppe kontrolliert den Import von Eisen, Tee und vielen strategischen Gütern.

Wie beurteilen Sie den immer lauter werdenden Nationalismus Ahmadinedschads? Nach der Wahl sagte er, man könne den Begriff der Zivilisation nicht definieren, ohne das Wort Iran zu verwenden.

Der Nationalismus ist eine der Gemeinsamkeiten zwischen Reformern und Fundamentalisten. Aber der Nationalismus der Fundamentalisten ist ein Mittel zum Zweck, während er bei den Reformern einem Ziel dient. Der Nationalismus der Reformer meint primär die Wahrung der Interessen der Bevölkerung und Selbstbestimmung. Für die Fundamentalisten hingegen sind Nation und Staat fast identisch und Nationalismus bloß ein Mittel, um Machtstrukturen zu verankern. Eine ganz ähnliche Rolle spielte die Ideologie der islamischen Internationalen zu Beginn der Revolution. Heute ist man wohl der Auffassung, dass man die Menschen besser mithilfe ihres Nationalstolzes an das System binden kann.