Wer hat Angst vor Angela M.?

ICH NICHT!
Es geht nicht mehr darum, ob Angela Merkel Kanzlerin wird. Es geht nur noch darum, wann sie die Regierung übernimmt – und was sie daraus macht. Außer Gerhard Schröder muss jetzt aber niemand Angst bekommen

Hätte es noch eines Beweises dafür bedurft, dass Merkel nicht mehr aufzuhalten ist, lieferte ihn das Ende für Rot-Grün in Schleswig-Holstein. Wenn die CDU so stark ist, dass selbst eine Witzfigur wie Peter Harry Carstensen gewinnen kann, haben ihre innerparteilichen Gegner ausgespielt. Und Gerhard Schröder. Er kann die Republik jetzt nur noch warnen: Fürchtet euch, mit Merkel wird alles noch viel schlimmer. Doch das wird nicht reichen, weil es nicht stimmt.

Wer sich vor der Kanzlerin Angela Merkel fürchtet, verwechselt sie mit der Kandidatin. Natürlich tut Merkel jetzt so, als würde sie die Republik umkrempeln. Radikal und kompromisslos. Sie suggeriert, dass vom Antidiskriminierungsgesetz bis zur Zinsgewinnbesteuerung alles anders wird, wenn erst der zauderliche Schröder, der Gewerkschaftsflügel von der SPD und die spinnerten Weltverbesserer von den Grünen ausgeschaltet wären. Das ist das Einmaleins jeder Oppositionspolitik – lasst uns ran, nur dann bewegt sich endlich was.

Das ist, wie jede Propaganda, vor allem: eine große Illusion. Was die beiden großen Lager unterscheidet, wird künstlich übertrieben. Gerade in den Politikfeldern, die am meisten Emotionen wecken, steht die Rhetorik in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Realität. Nehmen wir nur mal die Ausländerpolitik. Glaubt irgend jemand ernsthaft, eine Kanzlerin Merkel würde Deutschlands Grenzen komplett abriegeln, die Rot-Grün angeblich sperrangelweit offen stehen ließ? Ganz ruhig bleiben! Die zeitweise extrem freigebige Visavergabe à la Volmer war schon unter Rot-Grün die Ausnahme, nicht die Regel. Gerade deshalb wird der Streit darum ja so aufgebauscht. In der Regierungspraxis hält sich auch Rot-Grün seit der gescheiterten Doppelpass-Initiative vor sechs Jahren an die Regel, die Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) aufgestellt hat: Wir brauchen mehr Ausländer, die uns nutzen, und weniger Ausländer, die uns ausnützen. Oder hat es unter Rot-Grün eine Abschiebung weniger gegeben? Wurden mehr Asylbewerber anerkannt? Im Gegenteil. Nichts anderes als die Beckstein’sche Kosten-Nutzen-Devise in der Ausländerpolitik befolgt auch das Punktesystem für Neueinwanderer, das Rot-Grün einführen wollte. Als Oppositionsführerin hat es Merkel abgelehnt, als Kanzlerin wird sie diese „Steuerung der Einwanderung“ früher oder später selbst versuchen. Die demografische Entwicklung lässt ihr schlicht keine andere Wahl. Und ganz abgesehen davon, dass ein „Grenzen dicht“ im Schengen-Europa gar nicht möglich ist: Gegen eine allzu restriktive Politik würden alle protestieren, die von legalen – und illegalen! – Arbeitskräften aus dem Ausland profitieren. Also Merkels Verbündete in der Wirtschaft. Die fordern schon jetzt – im Gegensatz zu den Grünen! –, die Visaregeln für die Ukraine wieder leicht zu lockern.

Aber wie sieht es mit dem gesellschaftspolitischen Rollback aus, das unter Merkel droht? Oh Gott, oh Gott, die Homoehe? Weitere, wirklich liberale Maßnahmen fallen selbst rot-grünen Propagandisten kaum noch ein. Ihre Kampagne gegen die Homoehe aber hat Merkel schon lange abgeblasen. Wichtiger als Schröders Gesetz war der „Bewegte Mann“-Film. Der Mainstream bestimmt, was die Regierung tut. Nicht umgekehrt. Bleibt als Fürchtet-euch-vor-Merkel-Warnung die Theorie, dass sie eine deutsche Maggie Thatcher ist, die alle Arbeitnehmerrechte und den ganzen Sozialstaat abschafft. Quatsch. Mal abgesehen davon, dass auch Thatcher mit diesem Unterfangen schließlich gescheitert ist: Merkel wird es wohl wie Schröder halten. Langsamer Sozialabbau, Lohnstück für Lohnstück. Handelt sie radikal, wird sie auf viel mehr Gegenwind als Schröder stoßen. Alle, die aus Rücksicht auf die vermeintlichen Errungenschaften von Rot-Grün nicht gegen Hartz IV demonstrierten, werden es bei Hundt V tun. Und dann wird es Merkel sein, die Angst bekommt. Mit Recht. Spätestens wenn dem letzten 1-Euro-Jobber klar ist, dass durch Sozialabbau auch keine echten Arbeitsplätze entstehen, ist sie entzaubert. Wenn sie schlau ist, baut sie vor – und macht halblang. Wenn sie ihren Reformeifer übertreibt, wird sie fallen. Die neoliberal-konservative Revolution gibt es nur als Schreckgespenst – und als Schröders letzte Hoffnung. LUKAS WALLRAFF

ICH!
Unter Angela Merkel wird Deutschland schneller – passen Sie bloß auf, dass Sie da noch mitkommen! Die Ostdeutsche wird im mental verfetteten Westen aufräumen. Das wird ein großartiges soziales Experiment – für alle, die nicht davon betroffen sind. Sie können sich ja schon mal vorbereiten.

O.k., Sie haben ihr die Daumen gedrückt? Sie haben ihren Aufstieg mit Sympathie verfolgt, gegen die Kochs und Stoibers und Wulffs? Sie fanden, es wird endlich mal Zeit für eine Frau. Alles schön und gut. Doch das Vorprogramm ist um. Jetzt könnte Angela Merkel Wirklichkeit werden. Dann gilt: Diese Frau wird mehr verändern, als Ihnen lieb sein kann. Sie klagen über den Reformstau? Sie werden sich zurücksehnen nach den Zeiten, als eine Reform à la Hartz IV die Regierung noch zwei Jahre beschäftigt gehalten hat. Das können Sie sich nicht vorstellen? Dann glauben Sie wohl immer noch, was Sie in der Zeitung lesen: dass Merkel die Unentschiedene ist? Dass sie nur laviert, taktiert und intrigiert? Die Realität sieht anders aus: Der Weg, den sie als Parteivorsitzende verfolgt hat, ist geradliniger, als es im Klein-Klein der Tagespolitik scheint. Kein Politiker außer Gerhard Schröder wollte in den letzten 15 Jahren so hartnäckig an die Macht wie Angela Merkel. Aber im Unterschied zu ihm hat sie ein Programm.

Das ist erst mal gut. Aber welches Programm verfolgt die erste Frau im Kanzleramt? Sie will Deutschland flexibler machen, schneller, wettbewerbsfähiger. Sie will aufräumen mit den Trägheiten von gut 50 Jahren Bundesrepublik. Sie kommt aus dem Osten und weiß, dass der Westen sich überlebt hat. Und hat sie nicht Recht? Ist das nicht ein hehres Ziel? Schämen wir uns nicht heimlich unser mentalen Fettleibigkeit? Gibt es bei uns Gesinnungsprotestanten nicht den stillen Wunsch nach einer harten Hand? Wir werden uns noch umschauen.

Aus Sicht von Merkels treuer Garde zielte die Regierung der letzten Jahre auf eine rot-grüne Erziehungsdiktatur: vom Atomausstieg bis zum Antidiskriminierungsgesetz wollten die Linken der Wirtschaft und den Leuten ihre Ansichten aufzwingen. Merkel will den Menschen die Freiheit wiedergeben: die Freiheit von staatlichen Vorgaben. Man kann es auch anders formulieren: Sie will die Reformdiktatur. Der Staat wird solange reformiert, bis er sich nicht mehr rühren kann.

Merkels Programm ist kurz: Sie will einen Staat, der sich heraushält aus dem Leben seiner Bürger. Bis aber der Staat soweit ist, sich herauszuhalten, muss Merkel, die Kanzlerin, sich erst mal kräftig einmischen.

Das wird ein großes und interessantes Experiment. Am besten verfolgen Sie es von Hawaii aus. Wenn Sie dabei sein müssen – etwa weil Sie sich Hawaii nicht leisten können –, dann könnte es allerdings ungemütlich werden.

Vermeiden Sie es, arbeitslos zu werden. Legen Sie sich bitte keine sexuelle Orientierung zu, die Ihnen Ärger mit den Nachbarn oder Vermietern einbringt. Meiden Sie Krankheiten, die Sie nicht selbst kurieren können. Und arbeiten Sie. Arbeiten Sie, arbeiten Sie, arbeiten Sie. Das hat ja noch keinem geschadet. Ach ja, und bleiben Sie jung.

Alternativ können Sie natürlich auch auf Horst Seehofer vertrauen. Oder auf Jürgen Rüttgers oder auf einen der anderen Unionspolitiker, die oft genug normale Leute treffen, um den allzu schnellen Reformgalopp noch zu bremsen. Doch wollen Sie Ihre Zukunft wirklich auf Jürgen Rüttgers bauen?

Kriege übrigens müssen Sie unter Angela Merkel nicht fürchten. Nicht mehr jedenfalls als ohnehin schon. Außenpolitik ist nicht das Feld ihrer Ambitionen. Noch nicht. Wenn Sie sie wiederwählen, kann das schnell anders ausschauen. Warum eigentlich die Idee der Freiheit auf Deutschland begrenzen? Warum nicht Wohlstand und Demokratie weltweit zum Durchbruch verhelfen? Schade eigentlich, dass Merkel den Job ab 2008 ohne George Bush erledigen muss. Der ist dann in Rente.

Da muss dann Guido Westerwelle einspringen. Lachen Sie nicht. Der Mann wird unterschätzt. Kein Politiker außer Gerhard Schröder wollte in den letzten 15 Jahren so hartnäckig an die Macht wie – aber das hatten wir schon. Im Zweifel ist Merkel übrigens radikaler als ihr Partner Westerwelle.

P.S.: Würde die Zukunft besser, wenn Rot-Grün bliebe? Das habe ich nicht gesagt. PATRIK SCHWARZ