Beschämen und strafen

Der Stil ist die Frau: Judith Butler und Martha Nussbaum denken über Verwundbarkeit als gesellschaftliche Kategorie nach

VON MARCO STAHLHUT

Judith Butler wurde bekanntlich Anfang der Neunzigerjahre mit ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ zu einer akademischen Berühmtheit. Der Erfolg dieser Monografie erscheint im Rückblick unverständlich, insofern sie zwar mit radikalem Gestus die biologisch-anatomische Geschlechterdifferenz bestritt, eine Fundierung dieses Gestus durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit biologischen Erkenntnissen von ihr jedoch noch nicht einmal in Ansätzen unternommen wurde. Noch in dem Nachfolgebuch „Körper von Gewicht“ redete Judith Butler ganz konstruktivistisch von den „angeblichen Tatsachen der Geburt, des Alterns, von Krankheit und Tod“. Nun war es schon immer zynisch oder gedankenlos, Krankheit und Tod den Charakter des Faktischen zu bestreiten. Aber mit dem 11. September 2001 kam diese Einsicht offenbar auch in dem postmodern geprägten Teil der amerikanischen Geisteswissenschaften an. So wird nicht nur das „gefährdete Leben“ des deutschen Titels des neuen Butler-Bandes erklärbar, sondern auch, dass in ihm wiederholt „das Menschliche“ beschworen wird: Es ist Finis mit den „Fines Hominis“ (Derrida), „den Enden“ des Menschen. Warum aber der Antihumanismus ihrer Stichwortgeber Michel Foucault und Jacques Derrida von Butler aufgegeben worden ist, bleibt theoretisch unaufgeklärt.

„Gefährdetes Leben“ ist eine Aufsatzsammlung politisch-philosophischer Essays und Interventionen Butlers, die auf die politische Situation nach dem 11. September 2001 reagieren. „Im Herbst 2001 hatte ich den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten eine Gelegenheit verpassten, sich selbst als Teil der Weltgesellschaft zu definieren, und stattdessen ihren nationalistischen Diskurs verstärkten, die Mechanismen der Überwachung ausbauten, Grundrechte aufhoben und Formen der ausdrücklichen und stillschweigenden Zensur entwickelten. […] Dass die Grenzen der USA durchbrochen worden waren, dass eine schwer erträgliche Verwundbarkeit zutage trat, dass entsetzlich viele Menschen ihr Leben verloren, war und ist Grund zur Furcht und zur Trauer; doch ist all das auch Anregung zum geduldigen politischen Nachdenken.“ Das zentrale Stichwort dieses Absatzes ist Verwundbarkeit. Die Abhängigkeit des Menschen von anderen und seine darin liegende spezifische Verwundbarkeit auszuhalten, statt zu verdrängen, ist der Impetus, vor dem Butler ein Dreieck aus psychoanalytischer Hintergrundtheorie, politischer Intervention und spätmoderner Ethik aufspannt.

Butler geht noch einmal dem nach, was sie als zeitweilige Selbstgleichschaltung der US-Medien nach dem 11. September sieht, vor allem der Kampagne gegen peacenics und excusenics auch in liberalen Medien wie der New York Times: Mit diesen Begriffen wurde von Susan Sontag bis Noam Chomsky auf jeden gezielt, der versuchte, die Hintergründe des Terrors zu verstehen – ein Versuch, für dessen Wichtigkeit Butler noch einmal überzeugend streitet. Sie weist die These des Harvard-Präsidenten Lawrence Summers zurück, jede Kritik an israelischer Politik sei Antisemitismus. Insbesondere beklagt sie die in dieser These implizierte Vereinnahmung jüdischer Liberaler und Linker – wie ihrer selbst – für eine israelische Politik, die sie weder mitbestimmen noch immer gutheißen. Ihre Überlegungen hierzu erhalten umso mehr Gewicht, als sich Butler im Buch ausdrücklich wie nie als jüdische Denkerin versteht. Der Schlussessay entwirft eine „jüdische Ethik der Gewaltlosigkeit“.

Dass die in „Gefährdetes Leben“ versammelten Texten sich immer wieder mit tagespolitischen Fragen beschäftigen, verleiht ihnen eine erfreuliche Konkretion und weitgehende Jargonferne. Doch selbst hier bringt der poststrukturalistische Hintergrund Butlers häufig etwas Gespreiztes mit sich, das bisweilen mit einem erstaunlich unsorgfältigen Nachdenken über den Gegenstand einhergeht. So finden wir in „Unbegrenzte Haft“, einem der schwächeren Texte des Bandes, eine lange Auseinandersetzung mit Foucaults Konzept der Gouvernementalität nebst einem kleinen Exkurs zu Giorgio Agamben, ohne dass wirklich deutlich würde, was hieraus für die angezielte politische Analyse gewonnen werden könnte.

Dennoch ist „Gefährdetes Leben“ ein manchmal überzeugender und häufig sympathischer Band. Aber es bleibt ein Buch, in dem eine poststrukturalistische Linke Überzeugungen von poststrukturalistischen Linken für poststrukturalistische Linke formuliert und Argumente im eigentlichen Sinn nur eine kleine Rolle spielen.

Das Spannungsverhältnis zwischen politischen Positionen und dem, salopp gesagt, verschwurbelten Stil Butlers hat Martha Nussbaum, inzwischen weithin als führende amerikanische Sozialphilosophin anerkannt, bereits Ende der Neunziger kritisiert. In einer scharfen Polemik in dem amerikanischen Magazin The New Republic hat Nussbaum auch gefragt, ob diese Positionen überhaupt fortschrittlich genannt werden sollten; oder ob die Derridas Spuren folgende frühere Absage Butlers an einen grundsätzlichen Wandel der Gesellschaftsverhältnisse nicht vielmehr, ernst genommen, eine Kollaboration mit Unterdrückung impliziere.

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung scheinen sich Nussbaum und Butler in ihren letzten Buchveröffentlichungen auf den ersten und auch noch einen zweiten Blick erstaunlich nahe. Auch Nussbaum geht es um die primäre Abhängigkeit des Menschen von anderen und eine damit einhergehende, unaufhebbare, Verletzbarkeit. Und auch sie greift, noch systematischer als Butler, auf die Psychoanalyse zurück, um individuellen und gesellschaftlichen Implikationen dieses menschlichen Fundamentalcharakteristikums nachzugehen. Was Butler und Nussbaum neben der unterschiedlichen inhaltlichen Thematik unterscheidet, scheint zunächst eine Frage des Stils. Aber le style c’est la femme, und hinter dem unterschiedlichen Schreibstil Nussbaums und Butlers verbirgt sich ein sehr unterschiedliches Verständnis von Philosophie. Nussbaum, die einen Lehrstuhl für Recht und Ethik an der Universität von Chicago bekleidet, geht es in „Hiding from Humanity“ zunächst um die Frage, was für eine Rolle Ekel und Scham im amerikanischen Rechtssystem spielen – und was für eine Rolle sie spielen sollten; grundsätzlicher aber um die Frage der psychologischen Grundlagen des Liberalismus und unserer liberalen Gesellschaften.

Man könnte Gefühle einfach als irrationale Leidenschaften verstehen, von denen rationale Überlegungen unbeeinflusst bleiben sollten. Eine einfache Antwort auf die Frage nach der Rolle von Ekel und Scham im Rechtssystem läge dann nahe, nämlich die, dass Gefühle allgemein in Überlegungen zum Recht nichts zu suchen haben. Aber Nussbaum plädiert schon lange dafür, den kognitiven Gehalt von Gefühlen ernst zu nehmen. Wie sie in ihrem neuen Buch zeigt, spielt der Rekurs auf Gefühle durchaus auch eine Rolle für rechtsphilosophische Überlegungen: So seien Furcht um unsere Sicherheit oder Mitgefühl für das Leiden von anderen gute Gründe für Gesetze, die die Rechte von Menschen beschützen.

Nussbaums Konzentration auf Scham und Ekel hat ihren Grund in dem Rechtssystem und der Gegenwartsgesellschaft der Vereinigten Staaten. In den USA werden immer häufiger so genannte shaming penalties, also beschämende Strafen, für Vergehen wie betrunkenes Fahren und Ähnliches verhängt; also etwa die Verurteilung dazu, ein Jahr das Auto mit einem entsprechenden Schild versehen zu müssen: „Verurteilt für betrunkenes Fahren“. Ein anderes Beispiel, das in den USA auch einige liberale Herzen erfreute, war die Verurteilung einer Gruppe New Yorker Geschäftsleute in Hoboken. Sie hatten nachts angetrunken auf der Straße uriniert und wurden dazu verurteilt, tagsüber den Bürgersteig mit Zahnbürsten sauber zu schrubben. In solchen Beispielen führt „Hiding from Humanity“ wohl die Fremdheit der USA für den europäischen Betrachter nicht weniger vor Augen als den Scharfsinn Martha Nussbaums.

Das gilt vielleicht auch für Nussbaums Diskussion des „Ekels“, der im angloamerikanischen Raum traditionell als „Argument“ für die rechtliche Sanktionierung homosexueller Handlungen diente. An sich steht eine solche Reglementierung dem Prinzip liberaler Rechtsstaaten entgegen, nur solche Akte gesetzlich einzuschränken, die anderen Personen Schaden zufügen. Ein moralischer Abscheu, ein Ekel des gewöhnlichen Bürgers sollten aber eben auch die Sanktionierung des an sich harmlosen gleichgeschlechtlichen Akts begründen. Bis heute kann die Empfindung von Ekel bisweilen erfolgreich in den USA vor Gericht geltend gemacht werden, um strafmildernde Umstände nach Angriffen auf Schwule und Lesben zu erhalten.

In der Analyse Nussbaums enthüllen sich Ekel und Scham als Gefühle ganz anderer Art als Furcht, Mitgefühl oder auch Zorn. Ihr kognitiver Gehalt enthalte tatsächlich einen unauflösbar irrationalen Kern – bei Ekel ein Zurückschrecken vor Kontaminierung, das mit dem menschlichen Verlangen verbunden sei, gar nicht tierhaft zu sein. Dieses Verlangen sei unerfüllbar – führe aber umso leichter dazu, „ekelhafte“ Eigenschaften auf stigmatisierte Gruppen zu projizieren. Das Problem mit Scham wiederum sei, dass sie auf die ganze Person ziele, nicht nur auf einzelne Handlungen. Bei beschämenden Strafen werde die ganze Person als schändlich gebrandmarkt und die wichtige Unterscheidung zwischen der Person und ihren Handlungen aufgehoben.

Was Nussbaum glänzend erreicht, ist zu zeigen, warum liberale Gesellschaften so handeln, wie sie handeln, und wo sie anders handeln sollten, als sie es derzeit tun. Insofern ist „Hiding from Humanity“ ein beeindruckendes Buch, scharfsinnig und im besten Sinne gelehrt. Wenn man etwas an ihm kritisieren wollte, so die weitgehende Ausblendung sozioökonomischer Dimensionen.

Das Buch endet mit dem Zitat aus einem Brief eines Patienten an den Psychoanalytiker Donald Winnicott. Den Inhalt des Briefes interpretiert Nussbaum als Aufgabe früherer neurotischer Verhärtungen und Schamgefühle und kommentiert abschließend: „So ein offenes Eingeständnis der Unvollständigkeit und Unsicherheit ist vielleicht ein guter Startpunkt, wenn unterschiedlich versehrte Menschen zusammenarbeiten, um eine liberale Gesellschaft zu schaffen.“ In einer von Konkurrenz bestimmten Gesellschaft wie der unseren ein Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit und des Angewiesenseins auf andere zu kultivieren, könnte freilich nicht immer unbedingt der beste Ratschlag sein – oder auch nur eine realisierbare Möglichkeit. Eine wirklich liberale Gesellschaft ist eben nicht nur auf psychische Dispositionen angewiesen. Sie wäre auch Voraussetzung, diese allgemein zu entwickeln.

Judith Butler: „Gefährdetes Leben“. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005. 200 Seiten, 10 Euro. Martha Nussbaum: „Hiding from Humanity: Disgust, Shame and the Law“. Princeton University Press 2004, 413 Seiten, 26 Euro