Die Stellung Kreuzbergs im Universum

VON STEFAN WIRNER

Warum leben wir in Kreuzberg? Die Antwort muss lauten: Weil wir zu Kreuzberg passen. Leben, wie wir es von Kreuzberg her kennen, könnte in anderen Stadtteilen Berlins nur unter künstlichen Bedingungen existieren. Kreuzberg besitzt die richtige Temperatur, die richtige Atmosphäre, einen großen Wasservorrat und ein Klima, das schon seit sehr langer Zeit stabil ist.

Weit und klar wölbte sich der Himmel über den ersten Hochkulturen zwischen Kottbusser Tor und Halleschem Ufer, und schon in diesen frühen Tagen Kreuzbergs wurden seine Menschen beobachtet. Das unwillkürliche Betrachten Kreuzbergs musste zum Kennenlernen einfachster Erscheinungen, ihres zeitlichen Ablaufs und ihrer regelmäßigen Wiederkehr führen.

Leben entwickelte sich in unserem Stadtteil nur langsam, wie wir durch Untersuchungen von Fossilien wissen. Unsere mehr oder weniger lückenlosen Funde zeigen, dass es mehrere große Auslöschungen gegeben hat.

Woher wissen wir überhaupt etwas von den Anfängen Kreuzbergs? Keineswegs aus Flugblatttexten oder Berlinbüchern. Die Sache ist leider viel komplizierter. Die Hilfswerkzeuge des Kreuzberg-Forschers sind nicht Brille und Staublappen des Antiquars, sondern Hacke und Spaten des Archäologen, der in mühsamer Arbeit kulturgeschichtliche Funde zutage fördert, von denen nur ein winziger Bruchteil auch Aussagen über Kreuzberg enthält.

Es hat keinen Sinn, danach zu fragen, wer diese elementaren Tatsachen entdeckt hat und wann dies geschah. Schon das statistische Material ist verblüffend genug. Das Vorhandensein solcher Kenntnisse wird man gewiss auch noch nicht als Anzeichen dafür deuten, dass es seit Anbeginn der Geschichte von Kreuzberg eine Wissenschaft von Kreuzberg gegeben hat.

Die durch die Domestikation von Tieren und den Anbau von Pflanzen ausgelöste Entwicklung der Produktivkräfte brachte nicht nur erhebliche Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur mit sich. Diese neue Situation spiegelte sich unübersehbar bereits in den Riten und Gebräuchen der Kreuzberger wider: Fruchtbarkeitszeremonien, Maifestspiele und Erntefeste beherrschen das Brauchtum. Die allmähliche Ausbreitung der Arbeitslosigkeit um den Spreewaldplatz dürfte zu durchgreifenden Änderungen geführt haben. In letzter Instanz waren es sozialökonomische Veränderungen, die die Wissenschaft von Kreuzberg überhaupt erst möglich gemacht haben.

Auf den zufälligen Besucher wirkt Kreuzberg oft düster und eintönig. Auf dem mageren und lichthungrigen Asphalt Kreuzbergs wachsen nur wenige Blumen. Die wirkliche Schönheit des Stadtteils liegt anderswo. Hat der Forscher sich erst einmal an Kreuzberg gewöhnt, dann zeigt auch das düstere Innere eine gewisse Schönheit. Die Kreuzberger verstehen es, vielfältige kulturelle Einflüsse aufzunehmen, sie zu verarbeiten und zu einer eigenständigen Kultur zu entwickeln. Bei allen Unterschieden, was Speisezettel und Essgewohnheiten anbelangt: Döner und Schultheiss fehlen nirgendwo. Hoch oben auf den sonnenbeschienenen Balkonen und Hausdächern wachsen Orchideen und andere Blütenpflanzen. Partys, sofern dies das richtige Wort ist, gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Unternehmungen der Kreuzberger. Die Partygäste erscheinen in zeremonieller Kleidung, meist völlig in schwarz. Die Männer behängen ihren Körper mit allerlei Schmuck aus allen Weltgegenden, die Frauen tragen so genannte Hasskappen und Lederbänder indianischen Ursprungs. Die Kreuzberger nehmen sowohl Alkohol als auch halluzinogene Drogen zu sich. Will man die Lebensformen der Kreuzberger verstehen, muss man diesen rituellen, durch den Gebrauch halluzinogener Drogen noch gesteigerten gesellschaftlichen Veranstaltungen ein weiteres Element zuordnen – die Straßenschlacht. Gegen Ende ihrer Sommerfeste attackieren die Kreuzberger ihre Ordnungshüter. Man mag das als abstoßend empfinden, aber die Zeremonie hat etwas überaus Rührendes und ist nicht im Mindesten widerwärtig oder unhygienisch. Jeder lebende Kreuzberger ist das seinen Vorfahren schuldig, damit ihr Geist frei wird.

Auch Kreuzberg kann nicht ewig existieren. Vielleicht wird es die Lebensform der Kreuzberger schon bald nicht mehr geben. Je weiter die Germanisierung fortschreitet, desto mehr werden die Kreuzberger von ihrem angestammten Land vertrieben, entwurzelt und bedrängt. Aber glücklicherweise gibt es keinen akuten Grund zur Sorge. Die Krise wird erst in einigen Jahren über uns hereinbrechen, und es ist vermutlich richtig, wenn wir annehmen, dass die größte Gefahr für den Bestand Kreuzbergs von uns selbst ausgeht.

Das Problem besteht darin, dass die Kreuzberger nicht definieren können, was „Arbeit“ bedeutet. In ihrer Sprache gibt es dafür kein Wort. Selbst wenn man einen Zaun um Kreuzberg herum errichtete, würde das Leben innerhalb dieses Zauns völlig ohne gesellschaftliche Arbeit vonstatten gehen. Ganz gleich, wie gut man ihn bewachte (und vermutlich würde er nicht sonderlich gut bewacht werden).

Vom Standpunkt der Kreuzberger aus gesehen, wäre es das Beste gewesen, wenn die Germanen nie in Kreuzberg eingedrungen wären. Aber sie sind eingedrungen, und damit ist es Pflicht jeder Regierung von Kreuzberg, den Kreuzbergern beim Hinübergleiten in eine neue Kultur so viel Schutz wie möglich zu gewähren. In der Zwischenzeit könnte die Menschheit von den Kreuzbergern eine Menge lernen. Sie haben, unvorstellbaren Schwierigkeiten zum Trotz, in dieser Welt überlebt, und einige ihrer Techniken sind noch heute unübertroffen. Falls die Menschheit ihrer Umwelt eines Tages nicht mehr Herr wird, könnte sie vielleicht bedauern, dass sie nicht zu ihnen ging, um zu lernen und nicht nur zu lehren, um ihnen nicht nur eine Kultur aufzuzwingen, sondern auch von der ihren zu profitieren.

Es war für mich eine große Ehre, dass ich gebeten wurde, einen Beitrag zu einem so außergewöhnlichen und lebenswichtigen Buch zu schreiben. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, erläutert Kreuzbergs Platz auf diesem Planeten und den Schaden, den wir uns selbst zufügen, bietet jedoch keine weitere düstere Untergangsvision, sondern zeigt uns, wie wir unsere Lebensweise verändern können, um zu überleben. Vielleicht hätte man dieses Buch vor zwanzig Jahren noch nicht schreiben können, da bis vor kurzem unsere Einstellung zu Kreuzberg in hohem Maße überheblich, selbstzufrieden und einfältig war. Weit davon entfernt, die wesentlichen Antworten zu kennen, sind wir uns noch nicht einmal sicher, wie die richtigen Fragen lauten. Zu einem großen Teil stellt Kreuzberg eine Ressource dar, die sich selbst stets erneuert. Wenn wir verständig mit Kreuzberg umgehen, bietet es uns unendlich viele Schätze. Kreuzberg ist unsere Welt, doch wir müssen rasch lernen, es mit Respekt und Dankbarkeit zu behandeln. Hoffentlich tun wir dies, bevor es zu spät ist und wir erkennen müssen, dass wir Blattläusen gleichen, die sich auf einem verkohlten Stück Holz vermehren.