Die Marke Stadt

Essen und Görlitz sind die deutschen Bewerber für die Europäische Kulturhauptstadt 2010. Gleichzeitig wird die Vermarktung von Stadtkultur zur Normalität. Einen nachhaltigen Strukturwandel garantiert dies aber nicht

„Stadtmarketing“ ist fester Bestandteil des neoliberalen Verständnisses von Stadt

Tränen bei den Verlierern, grenzenloser Jubel bei den Siegern. So könnte es vor ein paar Wochen in Berlin zugegangen sein, als die beiden Gewinner des bis dahin wohl größten deutschen Stadt-Castings von einer Jury benannt wurden. Essen und Görlitz haben das Rennen gemacht und werden zur Endauswahl 2006 an die EU weitergemeldet. Nur eine der beiden ausgewählten Städte – zusammen mit einer ungarischen Partnerstadt – wird dann den imageträchtigen Titel „Kulturhauptstadt 2010“ ein Jahr lang tragen dürfen.

Insgesamt hatten sich 16 deutsche Städte Hoffnungen gemacht, hatten dafür zum Teil Millionenetats in die Werbestrategien gesteckt. Einmalig war nicht nur der Aufwand dieser Kommunen, sondern auch die mediale Aufmerksamkeit für dieses Städte-Casting: der Fernsehsender 3Sat führte gleich einen „Kulturhauptstadt-TÜV“ durch und „Stadtpaten“ wie Wolfgang Joop für Potsdam warben heftig in der Öffentlichkeit. Die Stadtoberen des 2.000 Jahre alten Regensburg scheuten nicht davor zurück, ausgerechnet den Theaterregisseur und Bürgerschreck Christoph Schlingensief anzuheuern. Der strafte die Bayern dann auch gleich mit seiner Aufführung „Keine Chance Regensburg“ gehörig ab.

Um einfache architektonische Schönheit ging es offenbar weniger in der Konkurrenz – denn in dieser Beziehung hätten Städte wie Bamberg, Lübeck oder auch Potsdam wirklich einiges zu bieten. Essen, genauer gesagt die Region Ruhrgebiet, und Görlitz mit dem Anhang Zgorzelec, den auf polnischer Seite durch Krieg und Oder abgetrennten Rest der Stadt, setzten dann auch weniger auf pittoreske historische Schönheiten. Gemeinsam haben die beiden Gewinner eine extreme Randlage innerhalb Deutschlands: hohe Arbeitslosigkeit und eine wirtschaftlich desaströse Situation, verbunden mit dem Gefühl irgendwie vom Rest der Republik immer mehr abgehängt zu sein.

Mit der Idee der Stadt Essen, die Transformation einer sich im Umbruch befindenden ehemaligen Industrie- und Kohleregion darzustellen sowie dem Versuch von Görlitz, eine gemeinsame deutsch-polnische Form von Kultur- und Stadtentwicklung voranzutreiben, hat man sich dann in der Berliner Jury für ein anderes Konzept von Stadt und Kultur entschieden. Kulturhauptstadt wurde nicht im Sinne eines Präsentieren von Kulturreichtümern verstanden, sondern als Versuch in einer fast hoffnungslosen Situation den Strukturwandel zu schaffen.

Aber um was geht es bei der „Europäischen Kulturhauptstadt“ wirklich? Natürlich erst einmal um einen vermarktungsfähigen internationalen Titel, verbunden mit der berechtigten Hoffnung auf zusätzliche Touristenströme. So weisen die Vertreter des österreichischen Graz, Kulturhauptstadt 2003, auf immerhin 30 Prozent Wachstum in diesem Bereich hin. Natürlich kommen solche Touristen nicht einfach nur wegen zum Beispiel gut ausgestatteter Stadtteilbibliotheken vorbei: Publicityträchtige Kultur-Highlights mit hoher Außenwirkung sind selbstverständlich ein viel wichtigerer Bestandteil jedes Hauptstadtjahres als etwa die zusätzliche Unterstützung von kleineren Kulturprojekten oder verbesserte Ausstattung von unterfinanzierten Theaterbühnen.

„Festivalisierung der Stadt“ wird diese Entwicklung in der Soziologie genannt. Kaum noch jemand scheint sich an diesem Prinzip von der zunehmend kurzfristigen Vermarktung von Kultur zu stören. Und schon längst ist „Stadtmarketing“ fester Bestandteil im Kontext eines neoliberalen Verständnisses von Stadt geworden. Gerade die „Marke“ Kulturhauptstadt eröffnet hierfür internationale Möglichkeiten und vielleicht die einmalige Chance zum Aufstieg in die Liga der großen Metropolen. Wenn auch zu einem hohen Preis: Mit nur rund einer Million Euro beteiligt sich die Europäische Union an den Kosten einer Kulturhauptstadt. Für den restlichen Etat muss die Stadt selbst und vielleicht noch Land und Bund aufkommen. Zuletzt muss eine Kulturhauptstadt dann trotz der oft bereits desolaten kommunalen Finanzhaushalte mit späteren Folgekosten durch neu geschaffene Prestigeprojekte zurechtkommen.

Nun gibt es auch Beispiele für einen nachhaltigen Einfluss auf Identität und Wahrnehmung einer ganzen Stadt durch Kultur. So haben ehemalige Industriestädte wie das britische Newcastle oder das spanische Bilbao tatsächlich einen bemerkenswerten Wandel vollziehen können. In Bilbao ist mit dem von Frank Gehry 1997 errichteten Guggenheim-Museum nicht nur die Stadt zu einem Anziehungspunkt für Kulturinteressierte geworden. Bisher verloren geglaubte ehemalige Industriegebiete – einschließlich des kaum noch wahrgenommenen Flusses samt Uferpromenaden – konnten so wieder in die Stadt integriert werden.

Touristen kommen nicht wegen gut ausgestatteter Stadtteil-Bibliotheken

Dass dagegen der klangvolle Titel „Kulturhauptstadt“ keine Garantie auf nachhaltigen Wandel oder gar auf einen Strukturwandel bietet, zeigt nur zu deutlich die Situation von Weimar, der Kulturhauptstadt des Jahres 1999: Viel ist nicht geblieben von der einstigen Aufmerksamkeit. So sah sich Ende 2003 die Stadt aufgrund der desolaten Haushaltslage sogar gezwungen, ihr Stadtmuseum zu schließen.

DIRK HAGEN