Von der Scham des Voyeurs

DAS SCHLAGLOCH von MICHAEL RUTSCHKY

Keine Sorge, ich warne jetzt nicht vor der schleichenden Vergiftung durchdiese Bilder

Die Würde des Alters, der Siechen und Kranken, die er ein Leben lang verteidigt hatte, bezeugte er am Schluss mit seinem eigenen Alter, seinem eigenen Siechtum, seinen mannigfaltigen Krankheiten. Er konnte kaum noch reden und nur schwer atmen, als er immer noch weiter zu singen versuchte, jeden Sonntagmittag neu, Punkt 12 Uhr, wenn er mit Pilgern ...

„Die Welt“, 4. April 2005

„Wilfried, du redest, als ob du das Vögeln erfunden hättest.“ So habe er mal einen Freund nach allzu enthusiastischen Mitteilungen über den Geschlechtsverkehr abmahnen müssen, pflegte der Psychoanalytiker Frederick Wyatt zu erzählen, der bis 1938, als er aus Wien in die Staaten emigrieren musste, Friedrich Weiss hieß. Man kann das jetzt umschreiben: Karol Wojtyła scheint das Sterben erfunden zu haben, wenn man sich an seine letzten Auftritte und die große Medienerzählung hält.

Wie der Feinstaub drang die Botschaft überall ein. Von den Fensterbildern des sprachunfähigen alten Mannes, der augenscheinlich an qualvoller Atemnot litt, bis zur öffentlichen Aufbahrung der Leiche. Das Schauspiel bot sich dar, als sei zuvor nie jemand todkrank gewesen und verstorben, als wohnten wir ihm wie der Mond- und Marslandung zum allerersten Mal in der Menschheitsgeschichte bei.

Wenige sagten – wie Eckhard Henscheid –, dass es ein obszönes Schauspiel sei, dass Karol Wojtyła als Schauspieler diese Rolle entsetzlich überreizt habe. Vielmehr repetierten sie, wie die Kurie und Karol Wojtyła seine Krankheit und seinen Tod als einen Akt der Kulturkritik aufgefasst wissen wollten.

Angeblich verdrängt die moderne Gesellschaft ja, dass der Mensch endlich, hinfällig, sterblich ist – wurde also mal Zeit, dass es ihm an prominenter Stelle vor Augen geführt wurde. Bravo! Ob die kulturkritische Pointe überhaupt trifft, ob sie sich nicht bloß einem rhetorischen Schema verdankt, das jeder in Anspruch nimmt, der Aufmerksamkeit erregen will, ist unwichtig: Diese Gesellschaft verdrängt Hunde, Kinder, die Armut – was Sie gerade mögen.

Manchmal kommt es mir so vor, als müsse man die große Medienerzählung der Hermeneutik unterwerfen, welche Sigmund Freud für das Träumen entwickelt hat. Was träumen wir, welche Wünsche erfüllen wir uns, wenn wir Karol Wojtyła beim Sterben zuschauen?

Sterben ist in der modernen Welt ein intimer Vorgang. Wer es an seinen Lieben schon erleben musste, weiß, dass sie für den endgültigen Abschied Publikum scheuen – sie wählen den Augenblick, wo du gerade aus dem Zimmer bist. Ebenso wenig glotzt man die Toten gierig an: Für die Angehörigen wird der Sarg noch einmal geöffnet, damit sie ein letztes Bild mitnehmen können. Das hat darüber hinaus magische Implikationen: Die Lebenden versichern sich, dass der Tote wirklich tot ist, dass sie sich nicht vor ihm fürchten, dass sie seinen Anblick aushalten. Danach trennen sich die Welten, die einen bleiben über, die anderen gehen unter die Erde.

Alle intimen Vorgänge wecken die Neugier, die Schaulust. Beim Sex ist das bekannt, und wer will, kommt leicht auf seine Kosten. Aber Sterben und Tod sind in der Regel unsichtbar. Das gilt auch für Prominenz. Weder Franco noch Tito, ebenso wenig Willy Brandt oder Ronald Reagan wurden uns Voyeuren zum Schluss am Fenster gezeigt. Auch die Hinrichtung von Staats wegen, früher ein Massenvergnügen, findet in geschlossenen Räumen vor einem kleinen Publikum statt – neulich die Bilder aus dem Iran, ein Kindermörder wird öffentlich ausgepeitscht und dann an einem Kran gehenkt, sie kamen aus einer anderen Welt. Aber du hast sie dir genau angeschaut, nicht wahr? Allenfalls einen Leserbrief geschrieben, die Zeitung hätte die Bilder nicht drucken dürfen, wegen der Kinder …

Anders als beim Sex begleiten die Schaulust, die sich auf Sterben und Tod richtet, erhebliche Quanten Scham und Schuldgefühl. Man braucht Vorwände und Rechtfertigungen für den Voyeurismus – was ist der Iran, wie seine öffentlichen Hinrichtungen zeigen, doch für ein barbarisches Land! In Berlin kursiert dazu als Anekdote: schwerer Verkehrsunfall, die Menge umringt die Verletzten, und eine Dame drängelt sich durch mit den Worten: „Ach, ich kann so was nicht sehen, lassen Sie mich mal ran.“

Dass der Voyeur eigentlich wegschauen will, weshalb die Zurschaustellung von Sterben und Tod ein Akt praktischer Kulturkritik ist, das bildet natürlich eine besonders raffinierte Rechtfertigung. Sich sprachlos röchelnd am offenen Fenster zeigen, auf das die Menge in Erwartung einer Segensformel schaut. Und die Hinfälligkeit des Leibes dementieren auf das Prächtigste Berninis Kolonnaden um den Petersplatz und Michelangelos Peterskirche – das ist die Bildpropaganda, auf die sich die römische Kirche seit der Gegenreformation spezialisiert hat. Ihr dient jetzt das Fernsehen, über dessen Liebesbeziehung zu Karol Wojtyła viel geschrieben ward; die Fensterszenen ebenso wie der aufgebahrte Leichnam dürften ikonisch werden.

Wie vertrackt das mit Schuldgefühl und Scham des Voyeurs sich verhält, kann man die ganze Zeit an den Gedenksendungen betreffend das Dritte Reich beobachten. Ich weiß, das war nun wirklich ein verbotener Übergang. Leider existiert kein Bild vom toten Hitler; Walter Kempowski hat im letzten Band seines Monumentalwerks „Echolot“ ein Röntgenbild abgedruckt, das Hitlers Schädel zeigen soll, und man studiert das Bild sorgfältig. Jeder kennt den halb verbrannten Goebbels mit Frau und Töchtern, den toten Himmler, Göring, sie alle.

Alle intimen Vorgänge wecken die Neugier, die Schaulust. Beim Sex ist das bekannt

Bei den vielen weiteren Bildern und Texten, die es jetzt dazu immerfort zu lesen, zu hören und anzuschauen gibt, die Wehrmacht fällt in Polen ein, Stalingrad, Goebbels’ Sportpalast-Rede, Hitler mit Mütze und hochgeschlagenem Mantelkragen in der zerstörten Reichskanzlei, die Trümmerstädte, die Flüchtlingsmassen – man fragt sich, ob es hier wirklich um Wissen geht. Oder um Träumen.

Keine Sorge, ich warne jetzt nicht vor der schleichenden Vergiftung durch diese Bilder, die unter dem Vorwand aufgenommen werden, es handle sich beim Anschauen um Bewältigung der Vergangenheit, womöglich „Trauerarbeit“. Weil der Voyeur so intensiv mit der Scham und den Schuldgefühlen befasst ist, die seine Lust begleiten, empfiehlt sich hier aber Vorsicht, wenn es um die Rechtfertigungen geht. Je heftiger sie die guten, ja die besten Absichten des Voyeurs hervorkehren, umso mehr Misstrauen empfiehlt sich – zu allererst gegen mich selbst, versteht sich, wenn die besten Absichten leuchtend in mir aufsteigen.

Eine eigentümliche Nostalgie bildet sich dank der großen Medienerzählung diesseits und jenseits des 8. Mai 1945. Man möchte es immer und immer noch einmal sehen, wie das Reich des Bösen unterging und eine neue Geschichte begann. Die Hekatomben Toter, die dabei anfallen, halten keineswegs vom Zuschauen, vom wiederholten Zuschauen ab. Ich persönlich sehe am liebsten die Invasion in der Normandie, die ein furchtbares Blutbad war, bevor die Truppen richtig landeten. Und meine Rechtfertigung lautet natürlich, dass das der Anfang vom endgültigen Ende des Reiches war – wie schön. Dabei steigen mir leicht Tränen in die Augen.

Fotohinweis: Michael Rutschky ist Publizist in Berlin.