Tanzende Hände, beredtes Schweigen

THEATER Am Ballhaus Ost üben gehörlose migrantische Jugendliche gerade ein Drama nach Motiven von Wedekind ein

„Zwischen Lautsprache und der Welt der Gehörlosen klafft ein Graben“

REGISSEURIN MICHAELA CASPAR

VON CHRISTINA FELSCHEN

„Du Versager!“ Der Vater macht einen Schritt auf den Sohn zu, einen blauen Brief in der Hand. Moritz zuckt mit den Achseln. „VEER-SAAA-GEEEER!“ Das Gesicht des Vaters läuft rot an, Moritz schaut fragend, deutet auf seine Ohren. „Kannst du mich nicht EIN-MAL verstehen? Dann lies – lies – LIES!“ Bedrohlich baut sich der Vater vor dem schmächtigen Jungen auf; der greift den Brief, zerknüllt ihn und steckt ihn dem Mann in den Mund. In Gebärdensprache redet Moritz auf den Vater ein, der nun selbst nichts mehr versteht.

Laien und Schauspieler

In einem einzigartigen Theaterprojekt inszeniert Michaela Caspar derzeit die Tragödie „Frühling Erwache!“ nach Motiven von Frank Wedekind und Nuran David Calis: Bei der Premiere im Oktober werden neben drei hörenden Schauspielern 14 gehörlose und schwerhörige Jugendliche der Ernst-Adolf-Eschke-Schule auf der Bühne stehen; fast alle stammen aus Familien mit Migrationshintergrund.

Erstaunlich offen projizieren sie ihre eigenen Erfahrungen von Sprachlosigkeit, Demütigung und Einsamkeit auf den gut 100 Jahre alten Dramenstoff – und geben ihm eine eigene Ästhetik: Der Text verwandelt sich in Gebärdenpoesie, Sinn wird sinnlich erfahrbar.

Kein Laut dringt aus dem Probenraum im Ballhaus Ost. Doch ruhig ist es drinnen keineswegs: Jugendliche rennen durch den halbdunklen Bühnenraum, gebärden sich und lachen. Neben den schwarzgelockten jungen Darstellern in ihren bonbonfarbenen Probenkostümen wirkt Regisseurin Michaela Caspar unscheinbar, ihr Rufen verhallt ungehört: „Wo ist Dieter?!“ Suchend läuft sie durch den halbdunklen Bühnenraum, durch flimmernden Kreidestaub, an Tafeln mit Schülerpoesie entlang, vorbei an „Ich liebe Martha!“, an „Hurensohn!“ und an einer verschmierten Amerika-Skizze.

Ohne Dieter Becher geht hier nichts; der Gebärdendolmetscher ist die Brücke zwischen Regieteam und Darstellern. Neun Monate Probenarbeit haben Caspar ihre Illusionen genommen: „Zwischen der Welt der Lautsprache und der Welt der Gehörlosen klafft ein tiefer Graben.“ Erschöpft hält sie inne, blickt ernst und eindringlich auf: „Gesten und Klänge haben unsere Weltbilder ganz unterschiedlich ausgeprägt.“ Überwinden will Casper diesen Graben nicht, nur ausloten, um die Unterschiede besser zu verstehen.

Stolz schreitet die 16-jährige Martha-Darstellerin Rukiye C. durch das Scheinwerferlicht. Und erschrocken über ihren Stolz. Immer wieder vergewissert sie sich, dass ihr Rock lang genug über die Knie fällt. Die junge Türkin genießt es, sich „wie ein kleiner Star“ zu fühlen – und will doch anonym bleiben, denn ihre Eltern sind gegen ihr Theaterspiel.

Wedekind, zeitgemäß

Michaela Caspar hat Wedekinds „Kindertragödie“ der Lebensrealität der Jugendlichen angepasst: Die naive Wendla, die schwanger wird, weil sie nicht aufgeklärt wurde, tritt hinter die Figur der zwischen Verboten und Strafen gefangenen Martha zurück. Wedekinds Kritik an der restriktiven Sexualmoral scheint längst überholt, doch der Keil, den die Pubertät zwischen Eltern und Kinder treibt, besteht wie eh und je – besonders, da die Darsteller doppelt isoliert sind: als Gehörlose und als junge Migranten.

Der Gehörlosigkeit setzt die Laiengruppe ein kleines kommunikatives Wunder entgegen, ein trotziges „Jetzt erst recht“! In einer so ehrgeizigen und komplexen Inszenierung hätte die Geschichte sich schnell in ein semiotisches Zuviel verheddern und ersticken können. Doch die verschiedenen Plots und Kommunikationsformen – Gebärdensprache, Pantomime, Laute, Sprache, Musik, Hinweistafeln, Videoeinspielungen, Live-Cams, ein selbst gezeichneter Animationsfilm, Botschaften auf Körperteilen – fügen sich zu einem magischen Ganzen zusammen. Der suggestive Tanz der Hände und Bilder siegt über die reine Textvermittlung.

Am Ende machen sich nur die Gehörlosen verständlich – ein utopischer Gegenentwurf

Soziales Nebeneinander

Caspar nutzt Brechts episches Theater, um das soziale Nebeneinander von Hörenden und Gehörlosen zu thematisieren: Jede Figur ist doppelt besetzt, mit einem hörenden oder schwerhörigen und einem gehörlosen Darsteller. Die beiden Martha-Darstellerinnen Rukiye C. und Simone Jaeger inszenieren ihren Konkurrenzkampf um die Gunst des Publikums als Kampf der Kommunikationskulturen. Simone kommandiert, Rukiye lacht sie aus. Simone erkämpft sich das erste Wort, Rukiye den besten Platz: „Dich kann man ja hören, da braucht man dich nicht sehen!“

Die Inszenierung entlarvt „Behinderung“ als Resultat gesellschaftlicher Diskriminierung. Am Ende zeigt eine Filmprojektion die Darsteller beim Tauchen in poetischer Stille. Verständlich machen können sich nur die Gehörlosen; nur das gehörlose Publikum versteht – utopischer Gegenentwurf und Umkehrung der Rollen.

Michaela Caspar ist selbst Brecht-Darstellerin, eine „Polly“ mit Zopf und herbem Charme. Die 49-Jährige nähert sich mit dem Stück einem Thema an, das sie selbst mehr beschäftigt als ihr lieb ist: 1999 und 2001 hatte die Schauspielerin zwei Hörstürze und ist seither selbst schwerhörig – jähes Ende für ihre Karriere als Musicalsängerin. Trotzdem hat sie die Gebärdensprache bisher nicht gelernt. „Das wäre wie ein Eingeständnis!“, gesteht sie leise ein.

Mit lautem Lachen fällt ihr Gebärdendolmetscher Dieter Becher ins Wort. Er deutet auf die Probebühne, wo Moritz und Melchior gebärden und immer breiter grinsen. „Die wissen nicht mehr weiter, reden Blödsinn und keiner kriegt’s mit!“

„Frühling Erwache!“ Premiere am 7. 10. 2009; www.possibleworld.eu