Wo ist zu Hause, Leipzig?

Das schwierige Erbe der sozialistischen Architektur: In Leipzig fragt das Kunstprojekt „Heimat Moderne, Experimentale 1, Leipzig 2005“ nach dem aktuellen Nutzungspotenzial der Ostmoderne

von ROBERT HODONYI

Endstation Leipzig-Hauptbahnhof. Aussteigen. Ein trüber Morgen. Schneeflocken schweben über den Asphalt. Es ist bitterkalt. Wie kommt man von hier ins Musikviertel? Die zwei durstigen Männer am Imbiss schauen sehr argwöhnisch bei dieser Frage. Sie frühstücken Bier aus Büchsen. Das Viertel scheint in bestimmten Kreisen keinen sehr guten Ruf zu genießen, klingt ja irgendwie auch nach Boheme. Hier stehen unter anderem die Hochschule für Musik und Theater, repräsentative Gründerzeitbauten und prunkvolle Stadtvillen, immer wieder durchbrochen von elfgeschossigen Wohnscheiben aus den Siebzigerjahren und einzeln stehenden Punkthochhäusern: 19. vs. 20. Jahrhundert, bürgerliche Repräsentation vs. sozialistischer Wohnkomplex.

Von Anfang März bis Ende April ist das Viertel erste Station des Projekts „Heimat Moderne, Experimentale 1, Leipzig 2005“. Während der Fahrt mit dem Bus ins Musikviertel noch Sequenzen des vor kurzem gesichteten Films „Ist Leipzig noch zu retten?“ vor Augen. Unter dieser Überschrift strahlte das DDR-Fernsehen im November 1989 eine architekturkritische Reportage aus, die eine schonungslose Bestandsaufnahme planwirtschaftlicher Wohnungsbaupolitik vornahm und die ein düsteres Bild der Zukunft zeichnete: „Bilder, die wehtun, und die wir so bislang nicht zeigen durften, weil sie das Lackbild unserer Selbstzufriedenheit beschädigt hätten“, heißt es im Sprachduktus der unmittelbaren Wendezeit. Behutsame Kamerafahrten entlang von Gründerzeitquartieren des Leipziger Südwestens zeigen eine traurige und nicht enden wollende Ruinenlandschaft aus Altbauten mit begrünten Regenrinnen, maroden Dächern und bröckelnden Fassaden.

Nichts von alldem erkenne ich während der Fahrt mit dem Bus ins Musikviertel wieder, das ebenfalls Richtung Südwest liegt. Aus heutiger Sicht gewinnt der Titel des Films erneute Relevanz und Brisanz, das jedoch unter vollkommen anderen Vorzeichen, da inzwischen vor allem die Grammatik sozialistischer Architekturen nach und nach aus dem Stadtbild Leipzigs getilgt wird. Was hätte Franziska Linkerhand dazu gesagt? Formulierte die junge Architektin in Brigitte Reimanns Roman nicht die Utopie sozialistischer Architektur, in dem sie Häuser bauen wollte, „die ihren Bewohnern das Gefühl von Freiheit und Würde geben, die sie zu heiteren und noblen Gedanken bewegen …“?

Aussteigen. In der Villa Sieskind, einem ehemaligen Hotel im historistischen Stil, wird das disziplinenübergreifende Projekt „Heimat Moderne“ vorgestellt. Die Kulturstiftung des Bundes, die „Heimat Moderne“ fördert, weil es eben nicht nur um die Bespielung einzelner symbolischer Topografien Leipzigs geht, sondern um deren Vernetzung; und die daran beteiligten Gruppen und Institutionen, die aus den Bereichen Bildende Kunst (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig), Theater (raum 4), Musik (Forum Zeitgenössischer Musik Leipzig e.V.), Architektur und Stadtplanung (Büro für urbane Projekte, General Panel) stammen.

Über fünfzehn Jahre nach „Ist Leipzig noch zu retten?“ und seinem Plädoyer für eine nachhaltige Altbausanierung statt zügelloser Abtragung geht „Heimat Moderne“ dem Erbe der Ostmoderne nach. Ein wenig bewegt sich das Projekt dabei in der Tradition der 1. Leipziger Volksbau-Konferenz, an der im Januar 1990 über tausend engagierte Bürger teilnahmen und die einen generellen Abrissstopp für die Stadt bewirkten. Im Konzept zu „Heimat Moderne“ heißt es diesbezüglich: „Auch in Leipzig ist – wie vielerorts – die Nachkriegsmoderne zu einer Störstelle im Stadtbild geworden. Hier steht etwa die in den 1960er-Jahren erbaute, denkmalgeschützte Hauptpost am Augustusplatz zu großen Teilen leer, am Brühl sollen drei Wohnhäuser Neubauten weichen, ähnlich wie vor Jahren das Messeamt am Markt.“ Weitere architektonische Zeugnisse der Ostmoderne, etwa die Fußgängerbrücke über den Goerdelerring oder das Tourist-Informationszentrum am Sachsenplatz, wurden zugunsten des neuen Stadtumbaus beseitigt. Teile von Denkmalensembles, so Gebäudekomplexe der Universität Leipzig am Augustusplatz, stehen zur Disposition.

Vergleichbar der temporären ästhetischen Verwandlung des Palastes der Republik im vergangenen Jahr zum „Volkspalast“ oder während des Kunstprojektes „Dresden Postplatz“ (2003) ist auch „Heimat Moderne“ nicht an einer Musealisierung hoch kodierter Architekturen und Stadträume gelegen. Vielmehr werden urbane Interventionsstrategien entwickelt, die künstlerische Praxis, politische Theorie und akustische Ansätze an exemplarischen Orten – dem Musikviertel, dem Augustusplatz sowie dem Areal Brühl/Robotron – verknüpfen sollen. Der wegwerfenden Geste gegenüber der sozialistischen Moderne auf der einen Seite will „Heimat Moderne“ auf der anderen Seite mit der öffentlichen Auslotung von deren aktuellem Nutzungspotenzial begegnen. So darf man etwa gespannt sein auf die Beschallung des Augustusplatzes durch Hanns-Eisler-Chöre oder auf die Generierung eines Proteststadtplans durch die Gruppe General Panel, um nur zwei von über siebzig Veranstaltungen und Aktionen zu nennen.

Deutlich wurde allerdings bei der Eröffnung zugleich, dass verstärkt der Zusammenhang von Architektur und einer nicht näher spezifizierten (städtischen?) Identität fokussiert wird. Auf der gemeinsamen Stadtrundfahrt wurde das Terrain erkundet. Inwieweit dabei beispielsweise Kurt Nowotnys „Hauptpost“ (1961–1964) – ein siebengeschossiger Stahlbetonskelettbau mit einer Vorhangfassade aus Aluminium – als ein Identität konstituierender Faktor für die Stadt oder ihre Bewohner angesehen werden kann und wie so etwas verifizierbar sein soll, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Zwar wurde von den Organisatoren betont, dass es „die Heimat“ ebenso wenig gibt wie „die Moderne“ und dass beides changierende Begriffe mit hoher Bedeutungsvielfalt seien, aber darauf wäre man auch selbst gekommen. Die begriffliche Unschärfe, die sich durch die semantische Kombination noch verstärkt, ist möglicherweise gewollt, da sie in diesem Fall ein breites Spektrum von Assoziationen und künstlerischen Ansätzen zulässt.

Bis 11. September 2005www.heimatmoderne.de