Sushi aus dem See

TOLERANZ ÜBEN In Brandenburger Kleinstädten begegnen sich Menschen, die einander fremd sind. Sie singen, bereiten Sushi zu, schnitzen Pfeile und werfen sich in Schale. Ein Buch dokumentiert ihr Experiment

Einige ältere Fehrbelliner weigern sich zunächst, das Schminken ist ihnen „zu schwul“. Im Gasthof, bei Bier und Zigaretten, verflüchtigen sich die Ängste

VON BARBARA BOLLWAHN

Die Konstellationen lesen sich wie die Zutaten zu einem Drehbuch, bei dem am Anfang nicht klar ist, ob es ein Drama wird, eine Komödie oder ein politisch korrekter Streifen mit erhobenem Zeigefinger. Zwei schrille Travestiekünstler aus Berlin üben mit dem Männerballett eines Karnevalsvereins in der Provinz eine Choreografie ein. Ein kanadischer Blackfoot-Indianer bringt den Mitgliedern eines Schützenvereins bei, wie man Pfeile baut. Ein afrikanischer Chor singt mit einem deutschen Chor deutsches Liedgut und Gospel. Eine koreanische Sushi-Spezialistin bereitet mit einem Anglerverein Süßwasser-Sushi zu.

Diese unterschiedlichen Menschen treffen ausgerechnet in Kleinstädten in Brandenburg aufeinander, die nicht gerade für Toleranz bekannt sind. Gerne wäre man bei diesen Begegnungen dabei gewesen. Doch die Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg, die diese denkwürdigen Treffen zusammen mit der Berliner Grafikagentur anschlaege.de organisiert hat, hat keine Vertreter der Presse eingeladen, damit die Fremden sich möglichst unbefangen begegnen können. So muss man sich mit der Lektüre des vor kurzem erschienenen Buches „Vereinsräume – Kommunikationsräume für Toleranz“ begnügen, das die im Herbst 2010 stattgefundenen Workshops beschreibt. „Was macht man, wenn die klassischen Formate politischer Bildungsarbeit an ihre Grenzen stoßen?“, heißt es im Vorwort. Die Antwort: Man lässt Menschen verschiedener Kulturen, Hautfarben und Szenen aufeinandertreffen – beim Angeln, Jagen, Singen und Karneval.

Jeder Begegnung ist ein Kapitel vorangestellt mit Daten zu den Orten inklusive fremdenfeindlicher Angriffe. Auf den Weg nach Oranienburg, wo 1992 das 38. Todesopfer rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung zu beklagen war, machen sich die afrikanischen Mitglieder des A-cappella-Gospel-Ensembles „Harmonites“ aus Berlin. Sie treffen den Chor „Viva la musica Oranienburg“. Schon im Vorfeld ist eine Hürde zu nehmen: Die Chöre arbeiten mit unterschiedlichen Notensystemen. Kurzerhand singt einer der „Harmonites“ die Stimmen jedes Stücks und schickt sie per Mail nach Brandenburg. Männer und Frauen, die in der Schule Russisch statt Englisch gelernt haben, schreiben unter jedes „you“ ein „JU“ und singen von einem ihnen ebenfalls fremden „Reich Gottes“.

Fast ein Gewitter

Die afrikanischen Sänger wiederum haben Probleme, das Lied vom „Mühljungen“ zu verstehen und zu intonieren. Vier Tage üben die Chöre. „Bedenken, Missverständnisse, fast braut sich ein Gewitter zusammen“, heißt es in der Auswertung. Bei der Generalprobe sind beide Seiten etwas steif. „Dann geschieht etwas Überraschendes. Die Chöre singen wirklich gemeinsam, man hält inne, weil es fast zu kitschig ist.“ Die Oranienburger schmettern „Viva la musica“ und stimmen in das „Oh happy day“ der Anderen ein. Eine Oranienburgerin sagt danach, dass sie lange nicht mehr so glücklich gewesen sei. „Mühljung, I could feel it“, schwärmt ein Gospelsänger. Als bei Kaffee und Kuchen ein Afrikaner erzählt, wie er einmal in Oranienburg angepöbelt wurde, macht sich Betroffenheit breit. „Nicht, dass unsere Leute vorher Rassisten gewesen wären“, wird die Chorleiterin zitiert, „aber ihre spontane Empathie ist viel stärker geworden.“

In Zossen, knapp 18.000 Einwohner und 62.600 Treffer bei Google im Zusammenhang mit Rechtsextremismus, trifft der Kreisangelverband im Vereinshaus des Rangsdorfer Anglerverbandes eine koreanische Künstlerin mit einer Leidenschaft für Sushi-Kunst. Sie hat ein scharfes Messer dabei und Zander, die Zossener Karpfen und Aal aus dem Kiesteich. Das „erste Süßwasser-Sushi der Welt“ soll kreiert werden. Die Koreanerin kocht Sojasauce mit Ingwerwurzel, die Angler bereiten Möhren, Radieschen und Gurken aus ihren Gärten zu. Zwölf Angler nehmen Noris zur Hand, platzieren sie auf Bambusmatten, schichten Reis darauf, legen Fisch in die Mitte. Die Koreanerin zieht den Lachs dem Karpfen vor. Der riecht nach Teich und ist ihr nicht geheuer. Die Stimmung löst sich, als Biergläser auf den Tischen stehen. Schließlich rollt die Sushi-Spezialistin ein Maki mit Karpfen. „Die Veranstaltung insgesamt war sehr gelungen“, sagt ein Angler, der bei der Bahn arbeitet, wo er öfter auf rechte oder Jugendliche auf der Kippe trifft. „Solche Jugendlichen kann man schon einbinden und sollte man auch einbinden. Da geht noch sehr viel.“

Nach Wittenberge, wo die Nationalsozialisten das erste Außenlager des KZ Neuengamme errichteten, wo über 30 Prozent der Bevölkerung nach der Wende abwanderten, wo 60 Vermummte 2009 einen rechten Aufmarsch veranstalteten, kommt der kanadische Blackfoot-Indianer Murray Small Legs. Der Mann mit den geflochtenen Zöpfen zeigt Mitgliedern der „Wittenberger Schützengilde 1582 e. V.“, wie man Pfeile aus Haselruten herstellt. Im Unterholz stellt sich schnell heraus, dass es auf beiden Seiten passionierte Jäger gibt und sowohl in den Reservaten als auch in Wittenberge die Kinder zu viel fernsehen. Bei Nackensteak und Kartoffelsalat hält Small Legs einen Diavortrag über das Leben seiner Stammesbrüder, mit Wein und kanadischem Whisky geht es weiter. Am nächsten Tag wundern sich die Wittenberger Bogenschützen noch immer, wie die krummen Haselrutenpfeile auf einer geraden Bahn fliegen können. Schade ist, dass Small Legs im Interview nicht verrät, wie es dazu kam, dass er nach zwei Besuchen auf der Tourismusbörse in Berlin nach Deutschland übersiedelte. Seine Tochter werde vielleicht ein Buch darüber schreiben, kündigt er an.

Bier mit Strohhalm

Das unterhaltsamste Toleranzexperiment fand in Fehrbellin statt, knapp 9.000 Einwohner, 60 Kilometer nordwestlich von Berlin, wo 2009 Rechtsextreme zum Volkstrauertag aufmarschierten. Dorthin fahren zwei Transvestiten aus Berlin, die mit kurzen Röcken, hohen Schuhen und langen Federboas das Kiezbingo im Kreuzberger SO 36 veranstalten und als „Transen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ auftreten. Zusammen mit sechs der zehn Mitglieder vom Männerballett des Karnevalsverein, den „Maskulinen Hüpfdolls“, üben sie eine „schrill-pompöse Bühnenshow“ ein. Einige ältere Herren weigern sich zunächst, das Schminken ist ihnen „zu schwul“. Im Gasthof verflüchtigen sich die Ängste. Die Fehrbelliner lassen sich stärker als sonst schminken und trinken ihr Bier mit Strohhalmen, damit der Lippenstift nicht verwischt. Plötzlich kommt die Idee auf, die Generalprobe im SO 36 in Berlin zu machen.

Den Fehrbellinern, einer von ihnen ist Landwirt und hat wenige Stunden zuvor noch Winterweizen gesät, geht die Düse, als sie all die Paradiesvögel und Drag Queens in Kreuzberg sehen. Doch der Auftritt wird ein voller Erfolg. Als der Moderator für die Karnevalsveranstaltung in Fehrbellin ausfällt, übernehmen kurzerhand die Berliner den Job. Die Eintrittskarten gehen weg wie warme Semmeln. Die Transvestiten sind jetzt Ehrenmitglieder des Karnevalsvereins. Nur eine Sache, erzählen die Dragqueens im Interview, hat ihnen überhaupt nicht gefallen: dass zum zweiten Treffen einer der Organisatoren des Projektes kam, um über Intoleranz in den neuen Ländern zu sprechen. „So etwas darf nicht passieren, wenn man gerade dabei ist, miteinander warm zu werden.“

Im Nachwort des Buches heißt es, dass „die mitschwingende Unterstellung, BrandenburgerInnen hätten ein Toleranzproblem, berechtigterweise als sehr einseitig wahrgenommen“ wurde. Trotz „kleinerer Hürden und Gratwanderungen“ sei das Vorhaben als „ein bereicherndes Unterfangen wahrgenommen worden“. Und es wird weiter in Brandenburg gejagt, geschossen und gesungen. Die Schützen wollen den Blackfoot-Indianer noch einmal einladen. Die beiden Chöre haben bei einem Weihnachtskonzert Anfang Dezember in Oranienburg gemeinsam gesungen – „Stille Nacht“.

■ „Vereinsheime – Kommunikationsräume für Toleranz“. Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg und anschlaege.de, Metropol Verlag, Berlin 2011, 196 Seiten, 16 Euro