Jubel, Trubel, Trauerarbeit

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Als der hellbraune Holzsarg um 10 Uhr aus der Basilika herausgetragen wird auf die Stufen von Sankt Peter, da begleitet nicht andächtiges Schweigen der Gläubigen die frommen Chorgesänge der Totenmesse, sondern lang anhaltender Applaus. Und Applaus brandet immer wieder auf. Fahnen – vor allem polnische – werden geschwenkt, als Kardinal Joseph Ratzinger den Verstorbenen würdigt, als er den Jugendlichen dankt, die dem Papst besonders am Herzen gelegen hätten, als er sagt, Johannes Paul II. sei „eins geworden mit Christus“. Und als Ratzinger seine Totenwürdigung mit einem Amen schließt, kommen sogar Sprechchöre auf: „Santo! Santo!“, wird ein Spruchband hochgehalten, mit der Forderung „Santo subito“, „Heilig sofort“, und später macht sich Stadionatmosphäre breit, mit rhythmischem Klatschen und „Giovanni Paolo“-Chören. Bis zuletzt, bis zu den Beisetzungsfeierlichkeiten gestern auf dem Petersplatz, behielt der Abschied von Johannes Paul II. seinen Happening-Charakter bei.

Unter das Motto „Seguimi“, „folge mir“, hatte Ratzinger seine Worte gestellt, und er hätte kein besseres finden können. Selbst auf einer UNO-Generalversammlung hat es wohl nie eine solche Konzentration der Mächtigen aus allen Ecken der Welt gegeben. Und eine Feier, auf der US-Präsident Bush samt Vorgängern Bush senior und Bill Clinton nur ein paar Meter weg Platz finden von den Schurken-Staatschefs Chatami aus Iran und Assad aus Syrien. Es dürfte auch ein Unikum bleiben, dass Robert Mugabe aus Simbabwe, für den ein Einreiseverbot für die gesamte EU gilt, Chirac und Blair, Köhler und Schröder im Nacken sitzt.

„Folge mir“: Das galt aber vor allem für die Millionen Gläubigen, die erst nach Rom geströmt waren, um dem toten Papst die Ehre zu erweisen, und die gestern an den Beisetzungsfeierlichkeiten teilnahmen. Schon am Donnerstag hatte sich die Innenstadt Roms, hatten sich die Straßen und Plätze rund um den Vatikan, die Parks, die Bahnhöfe in gigantische Biwaks verwandelt. Die wenigsten der etwa zwei bis drei Millionen aber waren am Ende live dabei: Der Petersplatz nahm höchstens 70.000 auf. Schon die, die dahinter standen, auf der breiten Via della Conciliazione, durften sich zwar über die Kulisse der mächtigen Fassade und Kuppel von Sankt Peter freuen – das Ereignis selbst wurde aber auch schon für sie zum kollektiven TV-Konsum an den Großbildschirmen längs der Straße.

Und wie sie sahen gestern erst recht die anderen in Massen fern, auf allen größeren Plätzen der Stadt, im Circus Maximus, vor dem Kolosseum, auf der Piazza del Popolo, vor der San-Giovanni-Basilika. Aber auch unter ihnen hatte sich schon in der Nacht, dann am Morgen vor der Messe Event-Atmosphäre breit gemacht, mit einem Fackelzug von Tausenden Jugendlichen, mit Gitarrenspiel, Gesang und fröhlichem Beisammensein. Neben denen, die es aus Krakau bis auf den Petersplatz geschafft haben, gab es auch Tausende Polen, die die Messe am Ende auf dem Universitätsgelände von Tor Vergata verfolgen mussten, draußen, ganz am anderen Ende Roms, wo Fabrikhallen und der moderne Kasten der Uni nicht einmal entfernt das Gefühl aufkommen lassen, man sei nun in der Ewigen Stadt. Der Entschlossenheit der Gläubigen, um jeden Preis, und sei es auch nur virtuell, dabei zu sein, tat das keinen Abbruch – und der linken Tageszeitung il manifesto fielen denn auch als Vergleich zu dieser in der jüngeren Geschichte der Kirche nie gesehenen Megamobilisierung bloß die Bestattungsfeierlichkeiten für Stalin und Chomeini ein.

„Folge mir“: Diese Losung galt zwangsläufig aber auch für alle Römer, egal wie kirchennah oder -fern sie sich fühlen mögen. Die Millionen Pilger mochten bloß virtuell bei der Messe dabei sein, doch ihre Präsenz in der Stadt war sehr real – mit dem Effekt, dass Rom seinerseits zur virtuellen Stadt wurde, zur ansonsten ausgestorbenen Kulisse des Mega-Ereignisses Papstbeerdigung. „Es ist, als habe Rom ein zweites Rom in sich aufgenommen“, referierte Bürgermeister Walter Veltroni die quantitativen Proportionen; in der Tat kam auf jeden Einwohner ein Pilger.

Qualitativ galt gestern endgültig, was sich schon in den letzten Tagen abgezeichnet hatte: Das „erste“, das Alltags-Rom wurde einfach zugemacht, es musste beiseite treten, um dem „zweiten“ Rom Platz zu machen. Die Läden in der Innenstadt: zugesperrt. Schulen, Büros, Museen, kommunale Einrichtungen: geschlossen. Der Autoverkehr im gesamten Stadtgebiet: seit zwei Uhr nachts und bis in den Abend komplett gestoppt. Die Römer: zu Hause. Dort konnten sie sich auf allen drei RAI- genauso wie auf zwei der drei Berlusconi-Kanäle die TV-Übertragung vom Petersplatz anschauen. Gegen diese Totalstopp-Philosophie muckten am Vortag bloß einige Professoren der Universität auf, als der Rektor eine Vorlesungspause für die Stunden der Gedenk-Messe in der Universitätskirche verordnen wollte. „Wir sind keine gregorianische Universität“, protestierten sie: „Die Anordnung stellt einen Akt der Missachtung gegen die Nichtkatholiken dar“.

Die Römer wurden mit mildem Zwang auf einen häuslichen Tag verpflichtet. Zugleich unterbrachen die Behörden mit einem Fahrverbot den Zustrom von Menschen aus dem Umland sowie den der verspäteten Pilger aus Polen. All das war gewollt, um freie Bahn zu schaffen auch für die, die in Rom überhaupt noch Dienst hatten. Dienst an den Pilgern, versteht sich, an den paar hundert Prominenteren ebenso wie an den Millionen weniger Prominenten. Die beispiellose Präsenz von Staats- und Regierungschefs zog ebenso beispiellose Sicherheitsmaßnahmen nach sich. Auf den Hügeln rund um den Vatikan wurden Raketenbatterien aufgestellt, ein Awacs-Flugzeug überwachte den total gesperrten Luftraum, Kampfhubschrauber und -flugzeuge waren in der Luft, während am Boden geschätzte 13.000 Polizeibeamte alle potentiellen Anschlagsziele überwachten. Zudem waren zehntausende Zivilschützer und Kommunalangestellte, Busfahrer und Pfadfinder, Sanitäter und Straßenkehrer im Einsatz, um Toilettenhäuschen und palettenweise Mineralwasser heran- sowie den Müll wegzuschaffen, um die Pilger nach Sankt Peter und auf all die andern Plätze Roms zu bringen, um die im Minutentakt von Schwächeanfällen heimgesuchten Gläubigen zu versorgen.

Um 12.40 Uhr dann ist die Messe vorbei, mit einem letzten Beifallssturm, als der Sarg Johannes Pauls II. zurück in die Basilika getragen wird. Und erstmals an diesem Tag, erstmals in dieser Woche gilt das „Folge mir“ nicht mehr. Anschließend wird Johannes Paul II. in der Krypta bestattet. An dem Ehrenplatz direkt neben dem Grab des Petrus. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit.