Der bessere Religionsunterricht

Ein neutraler Werteunterricht als Pflichtfach kann über verschiedene Religionen und Weltanschauungen informieren. Das fördert Toleranz und wirkt Fanatismus entgegen

Religiös gebundener Unterricht muss demgegenüber als Privatveranstaltung betrachtet werden

Am vergangenen Wochenende hat sich die Berliner SPD auf ihrem Landesparteitag mit großer Mehrheit für die Einführung eines „Werteunterrichts“ nach dem Vorbild des brandenburgischen Schulfachs LER (Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde) entschieden, und zwar als ein Pflichtfach, das nicht durch das Fach Religion ersetzt werden können soll.

Dieser Entscheidung kommt allgemeine schulpolitische Bedeutung zu, denn hier geht es um das Selbstverständnis der Schule insgesamt. Was steht – neben dem üblichen Parteienstreit – sachlich dabei zur Debatte? Seit der Planung von LER in Brandenburg haben insbesondere christliche Vertreter immer wieder geltend gemacht, dass ein derartiges „weltanschaulich neutrales“ Fach gerade im Hinblick auf den religiösen Aspekt zu schwach sei. In ihm sei nicht vorgesehen, dass man, wie etwa Bischof Huber beklagte, der Religion „wirklich begegne“, und man erziehe somit nicht zu einer ethisch bedeutsamen religiösen Haltung und Überzeugung, sondern relativiere im Gegenteil das Christentum oder auch andere Religionen tendenziell bis zur Bedeutungslosigkeit.

Bei dieser bis heute vorgetragenen Argumentation verkennen die Kirchen wie ihre Mitläufer aus den Reihen der CDU, aber auch der SPD, dass ein Werteunterricht im Sinne von LER eigene gesellschaftspolitische Ziele zu verfolgen hat. Diese Ziele bewegen sich mit Bedacht jenseits eines religiösen Bewusstseinsbildungsprogramms: Es geht in erster Linie um die Förderung einer liberalen, demokratischen Mentalität, die gerade in Ländern wie Berlin und Brandenburg mit ihrem massiven Potenzial an Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen Not tut.

Deshalb ist der staatlichen Werteerziehung jener Ernst entgegenzubringen, den sie verdient, und es muss der religiös gebundene Unterricht demgegenüber als das betrachtet werden, was er in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren ist: eine Privatveranstaltung, für die hinreichend viele außerschulische Gelegenheiten zur Verfügung stehen. Da dies von dem notwendigen staatlichen Bemühen um eine gefestigte staatsbürgerliche Mentalität aber nicht gesagt werden kann, ist es nur konsequent, wenn jetzt die SPD zusammen mit der PDS und den Grünen fordert, das neue Fach als ein nicht abwählbares verbindliches Pflichtfach anzusetzen und den Religionsunterricht dagegen als frei wählbares – und damit ja ohnehin schon über die Maßen privilegiertes – zusätzliches Fach anzubieten.

Wenn Vertreter etwa der Berliner CDU dagegen behaupten, der Religionsunterricht sei im Zweifelsfall der bessere Werteunterricht, dann mögen sie ihre eigenen Vorlieben in den Vordergrund stellen. Übersehen wird dabei aber die Tatsache, dass der konfessionell orientierte Religionsunterricht eben kein Äquivalent für einen neutralen Ethikunterricht darstellt und dass die zivile Gesellschaft die Verantwortung in einem ihrer Kernbereiche, der staatsbürgerlichen und mitmenschlichen Bildung, nicht aus der Hand geben darf.

Selbst wenn im Religionsunterricht Werte wie Liberalität, Toleranz, Demokratie oder Gewaltfreiheit vermittelt werden, so ist damit doch allemal ein doppeltes Problem verbunden: Zum einen bleibt es – aus der Perspektive des Staates und Staatsbürgers – mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob diese Werte in der geforderten Form und dem wünschenswerten Maße vermittelt werden. Was natürlich nicht bedeutet, dass es bei dem neuen Schulfach um eine Werte- und Weltanschauungserziehung à la DDR gehen soll, wie Wolfgang Thierse und andere absurderweise befürchten – in offensichtlicher Verkennung dessen, was im LER-Unterricht tatsächlich geschieht und in völliger Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass auch ein demokratisch-liberaler Staat Werte vertritt, zu denen offensiv zu erziehen er nicht nur berechtigt, sondern wohl auch verpflichtet ist.

Zum anderen entsteht durch die religiöse Bindung der schulischen Werteerziehung der für eine multikulturelle Situation fatale Eindruck, dass das ethisch Richtige an die (christliche) Religion geknüpft sei und von dieser sozusagen legitim vertreten würde. Dass dies eher Missverständnisse und berechtigten Widerstand schaffen würde als die angestrebte Art vernünftigen Miteinanders, liegt angesichts der existierenden weltanschaulichen Vielfalt auf der Hand.

Und noch etwas spricht für einen allgemein verbindlichen, staatlich verantworteten Ethikunterricht: In einer Situation, in der man insbesondere von den Muslimen in unserem Land aus gutem Grunde mehr Distanz zur eigenen Religion fordert, dürfte ein Werteunterricht, der frei – wenn auch nicht unsensibel – über die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen informiert, ohne die Schüler binden zu wollen, das geeignete schulische Mittel sein, wechselseitige Toleranz zu fördern und der Gefahr des Fanatismus entgegenzuwirken.

Aus all den genannten Gründen ist es also nicht sinnvoll, die Gleichrangigkeit von Religions- und Werteunterrricht im Sinne zweier alternativer Wahlpflichtfächer zu fordern, wie jetzt wieder vor allem vonseiten der CDU und der Kirchenoberen. Vielmehr gilt es, den staatlich zu verantwortenden Ethikunterricht in seinem Status und seiner Bedeutung zu stärken.

Denn insbesondere die VertreterInnen naturwissenschaftlicher Fächer in den Lehrerkollegien tun ihn gerne als unproduktives Gerede ab. Eine Missachtung, hinter der ein weit verbreitetes, hochgradig autoritäres Verständnis von Lehren und Lernen steht, mit dem gerade der Ethikunterricht aus guten Gründen – auch angesichts von Pisa – brechen will.

Beim Werteunterricht geht es um die Förderung einer liberalen, demokratischen Mentalität

Erstaunlicherweise gibt es aber, wie die Erfahrungen zeigen, auch unter den aufgeschlosseneren LehrerInnen eine alarmierende Unklarheit darüber, was ein solcher Unterricht eigentlich leisten sollte und zu leisten vermag. Hier hat eine vernünftige Bildungspolitik die Aufgabe, nicht nur das Unterrichtsfach anzubieten, sondern LehrerInnen dafür kompetent aus- bzw. fortzubilden und dadurch auch in den Lehrerkollegien eine entsprechende pädagogische Kultur zu stärken.

Schließlich geht es doch, entgegen einer immer noch verbreiteten altbackenen Pädagogik, nicht zuletzt um die dringend nötige Erhöhung der intrinsischen schulischen Motivation von Jugendlichen, wenn ein Unterricht angeboten wird, der die eigensten Probleme und Interessen der SchülerInnen in den Vordergrund stellt (mit Themen wie Freundschaft, Jugendclique, die eigene Lebensgestaltung, Wertekonflikte etc.). Auch dadurch würde jene „Vorstellung von einer menschlichen Schule der Zukunft“, die etwa Monika Buttgereit von der Berliner SPD fordert, mit Leben gefüllt. Eine derartige „menschliche“, aber eben auch demokratische schulpolitische Konzeption sollte nun endlich einmal kompromisslos durchgesetzt werden – auch gegen die Machtinteressen von latent autoritären Institutionen wie den christlichen Kirchen.

THOMAS SCHÄFER