Tief im weltoffenen Schwarzwald

„Wir leben unauffällig zusammen. Manche Ausländer sind waschechtere Hausacher als ich“

AUS HAUSACH ULRIKE SCHNELLBACH
UND MARGRIT MÜLLER (FOTOS)

Bürgermeister Manfred Wöhrle legt die Statistik auf den Tisch: 79 Türken, 54 Italiener, 51 Portugiesen, 29 Serben, 20 Kroaten, je 19 Spanier und Bosnier, 13 Polen, 10 Franzosen. Dazu vereinzelte Amerikaner, Kasachen oder Philippiner, je ein Inder, Schweizer, Kameruner und Ghanaer. Und so weiter. Insgesamt zwar nur 377 von 6.000 Einwohnern, aber 41 Nationalitäten. Wöhrle freut sich darüber. „Sie beleben unsere Gesellschaft.“

Nach Hausach im Kinzigtal führt eine kurvenreiche Schwarzwaldstraße. Die Fahrt zieht sich hin, von Freiburg dauert es eine Stunde durch Dörfer und Städtchen, an Höfen, Tankstellen und Gewerbegebieten vorbei. Adrett renovierte Häuser entlang der Durchgangsstraße, links das Rathaus, ein schmucker Fachwerkbau, rechts die katholische Kirche.

Dass Hausach etwas Besonderes ist, war lange Zeit nicht einmal dem Bürgermeister bewusst. Es brachte ihn ein Mann darauf, den man eher in Berlin oder Madrid vermuten würde als ausgerechnet hier: José F. A. Oliver, vielfach ausgezeichneter andalusischer Lyriker, der in Hausach lebt. Für die Literaturtage, die er jedes Jahr veranstaltet, hatte der Dichter die Idee, die Kleinstadt mit Fahnen zu schmücken: eine für jede Nationalität, die im Ort vertreten ist, dazu ein Gedicht in der jeweiligen Landessprache. Auf seine Nachfrage im Rathaus bekam er einen Anruf des Bürgermeisters: „Halt dich fest: Es sind 41!“ Dass sie ihre kleine Stadt mit so vielen Nationalitäten teilen, verblüffte die beiden.

„Das Zusammenleben ist völlig unauffällig“, sagt der Bürgermeister. Er ist ein freundlicher Mann, gehört den Freien Wählern an und stammt aus dem Nachbarort. „Die Ausländer sind zum Teil mehr waschechte Hausacher als ich“, stellt er fest. Hausach, politisch CDU-dominiert, sei immer eine „sehr offene Stadt“ gewesen. Ein möglicher Grund: Das Schwarzwaldstädtchen steht wirtschaftlich gut da. 3.000 Arbeitsplätze, die Arbeitslosigkeit unter fünf Prozent. Dass es den Betrieben gut geht, sagt Wöhrle, „ist auch der Tatkraft der Gastarbeiter zu verdanken“.

Es scheint ein ruhiges Multikulti zu sein, wenn nicht einmal einer wie José Oliver etwas davon bemerkt, der durch seine andalusische Abstammung für das Thema besonders aufgeschlossen ist. Er ist ein Mann mit leicht ergrautem Kurzhaar und Schnauzbart, ganz in Schwarz gekleidet, im linken Ohr blitzt ein silberner Ring. In der Wohnküche glänzen andalusische Wandfliesen, über dem Tisch hängt eine moderne Glaslampe, auf dem Boden liegen Bücher. José Oliver spricht Alemannisch wie seine Muttersprache und dichtet deutsch. Seine Eltern gehörten zu den Ersten, die 1960 der Arbeit wegen nach Hausach kamen. Oliver, 1961 geboren, war eines der ersten Kinder der so genannten zweiten Generation. Viele Jahre der einzige Ausländer am Hausacher Gymnasium. Als er sich an der Freiburger Universität einschreiben wollte, sollte er einen Sprachtest machen.

„Man war einer von ihnen, aber nicht einer der Ihren, so dass man fremd dazugehörte.“ Für die Generation seiner Eltern, resümiert Oliver, „war es ein Kampf“. Heute sei das Zusammenleben unproblematisch. Ausländerfeindliche Übergriffe habe es in Hausach nicht gegeben, sagt Oliver. Und erzählt eher beiläufig davon, wie seine eigene Mutter vor Jahren von Jugendlichen mit Nagelbomben beschossen und als „Ausländerschwein“ beschimpft wurde. Die Sache sei nie aufgeklärt worden, aber Hausacher Jugendliche seien das bestimmt nicht gewesen. Er will kein Aufhebens davon machen.

Seine Mutter, Franzisca Oliver Dominguez, ist eine temperamentvolle Frau, die eine abenteuerliche Mischung aus Alemannisch und Spanisch spricht. Anfangs wollten sie und ihr Mann nur kurz bleiben, erzählt sie. Inzwischen ist fast ein halbes Jahrhundert vergangen, ihr Mann ist gestorben. Drei ihrer vier Kinder sind mit Deutschen verheiratet. Sie selbst habe keine deutschen Freunde, fühle sich aber, seitdem der Schock über den Anschlag verdaut ist, wohl. „Wo meine Kinder sind, bin ich zu Hause.“

Die Wände ihrer Wohnung sind voll von Familienfotos. Eines zeigt sie als junge Frau im Narrenkostüm. Die alemannische Fasnacht hatte es der andalusischen Einwanderin gleich angetan. In einem Regal im Flur sammelt sie Narrenmasken. Sie erzählt von den Jahren, als sie sich eingewöhnen musste. Zum Beispiel davon, wie sie in den ersten Wintertagen vor einem Mann im roten Mantel erschrak, der mit einer Rute kleine Kinder zu verdreschen drohte. Wie ihr anfangs „die Wärme fehlte“, aber wie sie ein paar Jahre später nach einem Spanienurlaub zurück in Hausach zu ihrem Mann sagte: „So, jetzt sind wir zu Hause.“ Und, ganz wichtig, wie das ältere deutsche Ehepaar, das unter ihnen wohnte, der Familie half: „Tante“ und „Onkel“ betreuten die Kinder, wenn Mama und Papa in der Fabrik waren. Sie drängten die Eltern, Deutsch zu sprechen. Und sie nahmen sie mit zur Fasnacht.

Größter Arbeitgeber in Hausach ist die Firma Erich Neumayer, 1942 als Dreherei gegründet. Heute fertigt man hier und in den Werken in Italien, den USA und Brasilien Metallteile für die Autoindustrie. Von 500 Mitarbeitern sind 83 Ausländer, „eine ganz normale Quote“, wie Personalleiter Klaus Huber feststellt. Bei der Einstellung spiele die Nationalität keine Rolle, nur die Sprachkenntnisse. Werkleiter Stefan Bopp hat in Kalifornien und in London gelebt. „Was uns in Deutschland fehlt“, sagt er, „ist die Normalität, aufeinander zuzugehen. Was machen wir für einen Zinnober um die Staatsbürgerschaft!“

Mustafa Sahin, 38 Jahre alt, ist der einzige Türke in seiner Schicht. Das heißt, eigentlich ist er gar kein Türke, denn er hat einen deutschen Pass. Bei der Arbeit gebe es keine Probleme, erzählt er in gebrochenem Deutsch, und in der Vesperpause sitzen alle zusammen an einem langen Tisch. Er habe viel Kontakt zu Deutschen, auch privat. „Das ist eine kleine Stadt, schlechter Kontakt geht gar nicht.“ Seit einem Jahrzehnt lebt er hier. Dass er sich im Türkischen Kulturverein engagiert, liegt nicht etwa an Heimweh. Es geht ihm darum, „dass die Kinder auch unsere Kultur kennen lernen. Die sind hier so integriert.“

Der Türkische Kulturverein liegt etwas außerhalb des Ortes, im Keller des Teppichgeschäfts Haberer. Im Flur gibt es ein kleines Schaufenster mit Waren aus der Türkei, Tee, eingeschweißte Salami, Kichererbsen in der Dose. Von den Wänden blickt streng der Staatsgründer Atatürk, eine Wand ist mit einer riesigen Türkeifahne bedeckt. Stolz zeigt Recep Yilmaz, der Vorsitzende, die mit bunten Wandteppichen geschmückten Gebetsräume, getrennt für Frauen und Männer. Ein Kollege serviert starken Tee aus dem Samowar. Ein wenig Orient in einem Schwarzwälder Teppichlager. Hier feiern die Türken der Gegend ihre Feste, Hochzeiten ebenso wie den Ramadan. Deutsche kommen nur selten. „Es gibt hier keinen Alkohol“, sagt Yilmaz und lacht. Er ist fast täglich hier. Da bleibt nicht viel Zeit für deutsche Freunde, aber das Zusammenleben im Ort beschreibt auch er als unproblematisch. Die Frage nach dem Heimatgefühl ist für Yilmaz nach über 20 Jahren in Deutschland nicht einfach zu beantworten. „In meiner türkischen Heimatstadt fühle ich mich heimisch“, sagt er nach einigem Nachdenken, „aber nach einer Weile vermisse ich dann auch meine Heimat Hausach.“ Und er fügt an: „In der Türkei sind wir ja die ‚Deutschländer‘.“

Alles heile Welt in Hausach? Natürlich gebe es Ausnahmen, sagt Bürgermeister Wöhrle, „das ist ganz normal“. Und tatsächlich gibt es auch in Hausach Integrationsprobleme. Er zeigt aus dem Fenster hinter seinem Schreibtisch: „das Aussiedlerheim“. Rund 300 Russlanddeutsche leben seit einigen Jahren im Ort, etwa 50 von ihnen im Übergangsheim. Deutsche Staatsbürger – aber vom sozialen Status her die eigentlichen Ausländer. Anders als in den meisten Nachbargemeinden habe es in Hausach keine Proteste gegen das Heim gegeben, das mitten im Ort liegt und früher Asylbewerber beherbergte, sagt Wöhrle. Aber es gibt Hausacher, die sich über Jugendgangs ärgern, über Ruhestörung klagen oder den Kopf schütteln über Ölsardinendosen beim Picknick auf dem Schulhof. Die Stadt hat einen Runden Tisch eingerichtet, an dem sich regelmäßig Politiker, Pfarrer, Sozialarbeiter und Polizisten zusammensetzen, „um Integrationsfeindlichkeit vorzubeugen“, wie es der zuständige Beamte formuliert.

Der Dichter José Oliver hat Hausach einmal „mein andalusisches Schwarzwalddorf“ genannt. Vielleicht wird es irgendwann ja auch ein „kirgisisches Schwarzwalddorf“ sein.