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: HELMUT HÖGE über legal/illegal

„Morgens ein Joint und der Tag ist dein Freund“ (Altes friesisches Sprichwort)

Zehn Gramm Haschisch sollen nun legal sein, aber so viel kann ich mir auf einmal gar nicht leisten – bei meiner Dealerin, die seit 1992 vor den Toren der Stadt in einer alten Mühle wohnt. Hier trifft sich täglich der interessanteste Stammtisch. Viele kommen mit der S-Bahn, ganz Eilige auch schon mal mit einem Mietwagen. In ihrer Wohnküche hängt der altdeutsche Spruch „Müllerin, brumm nicht!“, im TV laufen meist Quizshows.

Die Müllerin, wie sie auch genannt wird, bietet stets Weißwein an und weiß viel vom vielen Fernsehen. Ansonsten dreht immer irgendein Kunde gerade einen Joint. Die meisten haben es nicht eilig. Einige hören nur zu oder warten auf die Erledigung ihrer Bestellung, andere quasseln ununterbrochen. Derzeit ist es ein junger Tscheche mit einer umfassenden Bildung, dem zu fast jedem Stichwort eine wissenschaftliche Erklärung einfällt, die oft auf eine umfassende hinausläuft – eine Art „Grand Unified Theory“.

Die Müllerin ist schon lange auf Stütze, aber sie selbst unterstützt noch ihren Ehemann Birja, der vor acht Jahren zurück in den Sudan ging: „Entweder wäre er hier verrückt oder gewalttätig geworden“, meint die Müllerin verständnisvoll. Gelegentlich erkundigen wir uns nach Birja, mit dem sie regelmäßig telefoniert, denn genau genommen sind wir es ja, die ihn finanzieren – und das machen wir auch gerne! Mehrere ihrer Kunden sind Hochschullehrer, einer arbeitet bei der Kirche – und das schon seit Jahrzehnten. Trotzdem kann er sich noch immer über bestimmte Verschrobenheiten in seiner Kanzlei, ja in der ganzen Ecclesia, wundern – und sie vor allem gut wiedergeben.

Das kann man von Gerd, der fixt und säuft und eigentlich für jede Droge offen ist, nicht sagen, dennoch sind seine Beiträge von Gewicht. Wie auch die eher zynisch knapp gehaltenen Bemerkungen von Jutta, die in einem Bordell arbeitet, worauf man sie jedoch nicht ansprechen darf. Ein begnadeter Erzähler ist dagegen Max: Der langzeitarbeitslose Historiker kam einst aus Lebernot vom Bier aufs Kiffen – und hat sich auf die Erforschung der westdeutschen K-Gruppen in den Siebzigern spezialisiert. Deren Differenzen kennt er bis in die letzte Arschfalte.

Interessant ist auch der bärtige englische Birdwatcher, ein Künstler, würde ich sagen, er beobachtet gerne Vögel – und das in der Stadt. Hier gäbe es, behauptet er, inzwischen mehr Arten als in der freien Natur, weil die Tiere langsam die Vorteile bemerken: Küchenabfälle, künstliches Licht, sichere Schlaf- und Nistplätze an und auf den Hochhäusern. Man könne sehr gut beobachten, wie verschiedene Populationen ein und derselben Art sich durch Lernen und Vererbung erworbener Eigenschaften in unterschiedlichen Soziotopen langsam auseinander entwickeln. Die Drosseln in Lichterfelde etwa würden sich kaum noch mit den Drosseln im Wedding verständigen können, von denen in Hellersdorf ganz zu schweigen.

Daraufhin kommt zum Beispiel Jutta prompt auf Darwin und Lamarck bzw. auf das „Survival of the Fittest“ (die ganze Natur ein einziger Fitnesspark) versus die „Gegenseitige Hilfe in der Natur- und Menschenwelt“ zu sprechen … Und jemand anders bemüht die „morphischen Resonanzfelder“ des Hyperlamarckisten Rupert Sheldrake bzw. den Unterschied zwischen dem Totemtier des New Age in den Achtzigern (Delphin) und dem der New Economy (Wolf).

So gestaltet sich jeder Besuch bei meiner Dealerin als ein Bildungsurlaub auf dem platten Land, von dem man jedoch gar nichts mitbekommt, weil die Müllerin, seit sie da draußen wohnt, erst nach Einbruch der Dunkelheit Besucher empfängt. Straßenlampen gibt es dort nicht und sowieso sind ihre Vorhänge vor den Fenstern immer zugezogen. Mit Paranoia hat das nichts zu tun. Im Gegenteil malen wir uns jedes Mal, wenn wir zu mehreren auf dem Rückweg in der S-Bahn sitzen, erschreckt aus, wie es wird, wenn man das Haschisch vollends legalisiert: Das wäre das Ende der Müllerin – und ihres aus Zufall und Notwendigkeit entstandenen Kundenkreises – ein furchtbarer Gedanke.