Der Luftgeist vom Lidl

LEBEN OHNE WOHNUNG Jan Sjoerds ist Schauspieler, Philosoph – und Obdachloser. Derzeit verkauft er die Obdachlosenzeitung „Hinz & Kunzt“ vor einem Hamburger Supermarkt

„Ich werde nicht als Hinz & Kunzt-Verkäufer enden“, sagt Jan. Er will wieder arbeiten

VON TINA STADLMAYER

„Kuck mal wie ich aussehe – ohne Zahn, so kann ich doch nicht vorsprechen“, sagt Jan Sjoerds und schaut zur Seite. Ein Zahn fehlt, das stimmt, aber Jan hat ein ausdrucksvolles Gesicht. Er ist 63 Jahre alt. Schauspieler. Und er ist obdachlos.

Jan ist Hinz & Kunzt -Verkäufer. Zu Beginn eines jeden Monats steht er an der S-Bahn-Haltestelle Klein Flottbek auf dem Bahnsteig und verkauft die Hamburger Obdachlosenzeitung. Einmal war in Hinz & Kunzt ein Bild von ihm, wie er vor leeren Rängen auf der Bühne tanzt. Jan Sjoerds hat am berühmten Max Reinhardt Seminar in Wien gelernt und trat auf vielen Bühnen auf.

Jan schlägt als Treffpunkt das Café Tide in Hamburg-Ottensen vor. An der Wand stehen große Holzstücke, Treibholz, das die Elbe angeschwemmt hat. Nein, er möchte nichts essen, er habe keinen Hunger. Später erzählt er, dass er heute eine große Portion abgepackten Salat in einem Mülleimer gefunden hat. Danach hat er in einem anderen Mülleimer noch Erdbeeren entdeckt: „Die habe ich nicht mehr ganz geschafft und sie für den nächsten liegen gelassen.“

Jan ist Holländer. Er trägt ein orangefarbenes Fußball-Trikot mit der Unterschrift von Rafael von der Vaart. Das Trikot hat er einem anderen Obdachlosen abgekauft, der es bei der Weihnachtstombola von Hinz & Kunzt gewonnen hatte.

Jan würde gerne wieder als Schauspieler arbeiten. „Es gibt Rollen für ältere Schauspieler. Als 63-Jähriger könnte ich auch einen Luftgeist oder ein Kind spielen“, sagt er, aber im Moment fühlt er sich nicht stark genug fürs Vorsprechen. Er habe kein Zimmer, in dem er sich vorbereiten könne: „Halb auf der Straße leben und sich als Schauspieler bewerben – beides gleichzeitig geht nicht.“

Jan ist nicht nur Schauspieler, er ist auch Philosoph, zitiert Kleist und Lao Tse. Doch seine große Liebe bleibt die Schauspielerei. „Ich würde gerne ein Roadmovie machen, zusammen mit anderen kreativen Leuten.“ Ein Drehbuch hat er schon geschrieben. Aber es liegt in einer Schublade in Bremen, wo er einmal gewohnt hat. „Ich weiß, dass ich schreiben kann“, sagt er.

Sein letztes Engagement als Schauspieler hatte Jan 2004 in Lübeck. Dort spielte er drei Monate lang in einem Weihnachtsmärchen den Vater von Pinocchio. „Ich war gut als Gepetto“, sagt er. Damals sei er schon lange obdachlos gewesen, aber am Theater habe er das niemandem erzählt. „Um meine Würde zu wahren.“

Als Obdachloser müsse man sauber gekleidet und gewaschen sein, sagt Jan. Er bringt seine Sachen in den Waschsalon, auch wenn es Geld kostet. Jan geht auch nicht gerne in Obdachlosen-Einrichtungen, denn dort gibt es zu viele Vorschriften. Seine Postadresse hat er bei der „Straßensozialarbeit Ottensen“: Da habe er sich auch helfen lassen, als er „mal depressiv drauf war“, denn in der dieser Einrichtung reden die Sozialarbeiter auf Augenhöhe mit ihm.

Eine Zeit lang lebte er ohne Sozialhilfe, „weil ich zu stolz war“. Inzwischen hat ihn ein Kunde überredet, den ihm zustehenden Hartz IV-Satz zu beantragen. Einmal im Monat holt er sich das Geld jetzt bei der Obdachlosen-Stelle der Stadt ab: „Ich habe viele Jahre lang Steuern und Versicherung bezahlt, da steht mir das zu“, sagt Jan.

Zur Zeit übernachtet er auf dem Dachboden über der Wohnung einer älteren Frau. „Wir haben verabredet, dass ich abends komme und morgens wieder gehe. Wenn ich um 10 Uhr morgens noch da bin, schimpft sie.“ Er sei da nur geduldet, sagt Jan – kein so schönes Gefühl, aber immerhin dürfe er auch das Badezimmer benutzen. Als Gegenleistung erledigt er die Einkäufe für die Frau, die krank ist und kaum noch aus dem Haus geht: „Das ist eigentlich ideal, man sollte Obdachlose öfter mit alten Leuten zusammen bringen.“ Die alte Dame hat er in einem Park in Ottensen kennen gelernt. Sie habe sich umbringen wollen, weil es so schlecht ging. „Das habe ich ihr ausgeredet.“

Jans Stammplatz als Hinz & Kunzt-Verkäufer ist vor Lidl in Bahrenfeld. Die Leute redeten mit ihm über ihre Sorgen, und die Lidl-Geschäftsführung akzeptiere inzwischen, dass er seine Zeitungen verkauft: „Ich mache ihnen die Pappkartons klein und entferne Kippen und Papier vor dem Eingang, denn ich möchte, dass es da, wo ich stehe, sauber ist.“ Ein Stammkunde bringt ihm regelmäßig eine Wurst vorbei. Wenn Jan mal nicht da ist, vergräbt er die Wurst an einem vereinbarten Ort.

1969 hatte Jan Sjoerds sein erstes Engagement am Theater am Goetheplatz in Bremen. Rainer Werner Fassbinder inszenierte dort „Pioniere in Ingolstadt“. Danach spielte er in zwei Stücken an der Freien Volksbühne in Berlin. Sein schönstes Engagement war ein Ein-Mann-Stück mit Gedichten von Annette von Droste-Hülshoff, mit dem er am Wolfgang Borchert Theater in Münster auftrat: „Ich stand alleine auf der Bühne und es war fantastisch.“

In Bremen verliebte er sich in Ute. Sie studierte Sozialpädagogik. 1977 kam der gemeinsame Sohn Elias zur Welt, kurz darauf Tochter Jessica. Das Paar trennte sich, als die Kinder sechs und vier Jahre alt waren: „Das war ein Schock für mich“, Jans Stimme wird leise. Seine Tochter Jessica arbeitet heute als Tanzdramaturgin am Theater Heidelberg. Er habe ein „sehr gutes Verhältnis“ zu ihr, erzählt Jan. Sein Sohn Elias ist Tauchlehrer in Ägypten.

Das Zerbrechen der Familie warf Jan Sjoerds aus der Bahn. Er fing an, ins Kasino zu gehen: „Roulette, Poker. Ich habe die Spannung gebraucht, wenn ich kein Engagement hatte.“

25 Jahre lang hat er gespielt, seit sechs Jahren ist er „clean“. Um nicht wieder in Versuchung zu kommen, hat er sich bei allen Kasinos selbst Hausverbot erteilt: „Ein Süchtiger muss sein Leben lang auf der Hut sein.“

Seit 2002 lebt Jan in Hamburg, wo er vor vielen Jahren schon einmal am Theater für Kinder gearbeitet hat. Er zwingt sich, einen festen Arbeitsrhythmus einzuhalten: „Ich verkaufe von acht bis halb eins die Zeitungen, dann trinke ich Kaffee und esse etwas, von fünf bis acht arbeite ich wieder.“ Montags gibt er sich meistens frei und am Sonntag steht er ab halb fünf Uhr früh auf dem Fischmarkt. „Dort mach ich manchmal den Marktschreier und rufe: „Hinz & Kunzt! Seit fünfzehn Jahren Betreuung der Obdachlosen!“

Von den 1,70 Euro, die eine Zeitung kostet, bekommt Jan 90 Cent. Er ist froh, als einer von etwa 400 Hinz & Kunzt-Verkäufern in Hamburg arbeiten zu können und liest die Zeitung von der ersten bis zur letzen Zeile. In seiner Freizeit hält er sich am liebsten in Bibliotheken oder Cafés auf, wo er sämtliche Tageszeitungen liest – nur die Bildzeitung rührt er nicht an.

Jan hat sich schon öfter für eine günstige Wohnung beworben, aber nie hat es geklappt. Trotzdem will er nicht aufgeben: Wenn er ein eigenes Zimmer habe, werde er auch wieder arbeiten. Er wird sein Drehbuch schreiben, für das Road-Movie. „Ich werde nicht als Hinz & Kunzt-Verkäufer enden“, sagt Jan.

Ob er in jüngster Zeit mal wieder im Theater war? Jan überlegt. „Nein“, sagt er, abends sei er immer so müde. „Doch“, erinnert er sich plötzlich und strahlt. Vor einem halben Jahr habe er am Theater Heidelberg „Die Nibelungen“ gesehen. „Meine Tochter saß neben mir. Das war schön.“